Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
unterbrochen und mir Winterkleidung gekauft. Deshalb saß ich jetzt in einem neuen Pullover und violetten Doc-Martens-Schnürstiefeln in diesem Imbiss namens Mekong unter einem dickbäuchigen Buddha. Weil ich Zeit schinden wollte. Weil ich Angst vor dem hatte, was mich in der Wohnung meiner Mutter erwartete.
»Papa kann dir bei den Vorbereitungen für die Beerdigung helfen«, sagte Alex.
»Papa, wieso Papa? Was hat der denn bitteschön noch mit unserer Mutter zu schaffen?«
»Papa weiß, wer der richtige Ansprechpartner beim Friedhof ist«, sagte Alex. »Er kann dort alles regeln.«
»Du willst Mama in Köln beerdigen?«
»Ja, wo denn sonst?«
Mama. Papa. Ich schwieg, fühlte mich auf einmal so unendlich müde, wie der einsame Wanderer in Schuberts Winterliedern. Meine Mutter war fünfzehn gewesen, als sie im Juli 1961 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durch eines der letzten noch existierenden Schlupflöcher der deutsch-deutschen Grenze zu ihrem ältesten Bruder Richard in den Westen geschleust worden war.
In letzter Sekunde,
wie sie immer betonte.
Knapp einen Monat vor dem Mauerbau.
Sie hatte dann ein paar Jahre bei ihrem Bruder Richard in Münster gelebt, sie hatte während dieser Zeit meinen Vater kennengelernt und war nach dem Ende seines Studiums mit ihm nach Köln gekommen und hatte ihn jung, mit gerade einmal zwanzig Jahren, geheiratet. Aber auch dieser weitere Abschied von einem Retzlaff-Familienmitglied und der damit verbundene Umzug in eine fremde Umgebung hatten ihr nichts ausgemacht, jedenfalls hatte sie das nie auch nur angedeutet. Und nach Ivos Tod, noch vor der Scheidung von meinem Vater, war es, als wären all diese Jahre mit uns in unserem Haus nur eine weitere Zwischenstation für sie gewesen. Eine Welt, der sie nun ohne zu zögern oder das zu bedauern den Rücken kehrte, weil Berlin so viel wichtiger war.
Ich will Ivos Stadt endlich kennenlernen, Rixa
.
Das bin ich ihm schuldig,
hatte sie gesagt. Aber sie unternahm nichts, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Sie zog nicht in Ivos geliebtes Prenzlauer Berg, sondern in den Westen, nach Friedenau. Sie ging kaum aus, sie fuhr auch nur selten in das Atelier, in dem Piet nun alleine arbeitete, sie besuchte keine Ausstellungen oder Galerien.
Anfangs versuchte ich noch, sie aus ihrer Wohnung zu locken. Ich lud sie zu mir ein. Ich schlug Unternehmungen vor und bot an, sie zu begleiten. Aber sie fand immer einen Grund, warum es ihr gerade an diesem Tag doch nicht passte, und wenn ich sie besuchte, saßen wir zwischen unseren Möbeln aus Köln und wussten uns nichts zu sagen, es sei denn, sie hatte einen guten Tag und begann, von Ivo und von unserer Kindheit zu sprechen. Oder, ganz selten, von ihren eigenen Kindheitserinnerungen, so wie in den Jahren, als sie nachts an mein Bett geschlichen war und mich in den Arm genommen hatte. Meistens aber tasteten wir uns mit ungelenken Halbsätzen durch die Gegenwart und die Zeit schleppte sich dahin, immer zäher und klebriger, bis ich schließlich aufsprang und floh, weil ich sicher war, andernfalls würde ich nie mehr entkommen, sondern mitsamt der stummen Verzweiflung meiner Mutter bis in alle Ewigkeit in ihrer Wohnung festsitzen, wie eine dieser Fliegen in Bernstein, die uns als Kinder so faszinierten.
Heimat. Zu Hause. Falls das für sie existierte, dann war es nicht hier in Berlin, genauso wenig wie für mich. Also hatte Alex wahrscheinlich recht: Sie gehörte nach Köln, auf den Friedhof zu Ivo.
»Ich schau, was ich machen kann, Rixa, okay? Ich komme so bald wie möglich, ich ruf dich wieder an.«
Klack. Ende. Die Leitung war tot. Ich legte mein Handy neben das Tablett mit der inzwischen kalt gewordenen Suppe. Etwas in meiner Brust drückte und schmerzte, breitete sich aus, bis in den Bauch, in die Kehle. Schmerz. Schuld. Eine ungute Melange, verhasst und vertraut. Ich hätte meine Mutter retten können, für sie da sein, sie uneingeschränkt lieben. Hätte und hatte nicht. Jetzt war es zu spät.
Draußen trudelten ein paar stecknadelkopfgroße Eiskristalle aus dem farblosen Himmel. Eines der Lauflichter an der Fassade gegenüber verriet, dass die aktuelle Temperatur –11 Grad Celsius betrug. Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Mutter, die früher vor jeder Winterreise zu den Großeltern Schreckensszenarien von gigantischen, alles verschlingenden Schneewehen heraufbeschworen hatte, bei Eis und Schnee ganz allein in einem Mietwagen nach Mecklenburg gefahren war, und schaffte es nicht. Ich
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