Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
So schnell wie möglich.«
»Bist du jetzt dort?«
»Ja, seit heute Morgen.«
»Gut, das ist gut.«
Wieder klapperte etwas in Alex’ Nähe. Er fluchte auf Englisch. Der Mann im Hintergrund erwiderte etwas. Alex fluchte erneut. Wie spät war es jetzt in Australien? Auf der Marina würde allmählich der Abend eingeleitet. Die Sonne auf den Seychellen sank früh, hätte längst den Horizont überschritten. Die ersten Kollegen der Frühschicht würden sich bereits in der Crew-Pinte ›Bembel‹ um den Tischkicker gruppieren.
»Du musst nach Berlin kommen, Alex«, wiederholte ich, als mein Bruder wieder am Telefon war.
»Ich kann hier nicht so einfach weg, wir stecken in einer absolut kritischen Phase. Wenn ich jetzt abbreche, geht ein fünfstelliger Forschungsetat vor die Hunde.«
»Sie ist tot, Alex! Unsere Mutter ist tot, und sie hat noch zwei weitere, völlig unschuldige Menschen mit in den Tod gerissen. Auf derselben Scheißautobahn wie damals Ivo!«
Ich war laut geworden, sehr laut. Die beiden Turteltäubchen im hinteren Teil des Restaurants drehten sich zu mir um. Auch die Kellnerin musterte mich prüfend, der Lappen, mit dem sie die Tische poliert hatte, hing aus ihrer Hand wie vergessen. Ich signalisierte eine Entschuldigung, rückte näher zum Fenster. Auf dem Bürgersteig zerrte eine Frau im Pelzmantel einen Rauhaardackel von seinem noch dampfenden Haufen weg. Er sträubte sich, krümmte den Rücken und ruderte wild mit den Pfoten, war seiner Gebieterin jedoch klar unterlegen. Ich wünschte mir sehnlich, bei meinem Bruder und mir würden die Machtverhältnisse ebenso liegen. Ich fühlte die Kälte, die durch die Glasscheibe drang, als ich weiter sprach.
»Die Polizei will von mir wissen, ob unsere Mutter getrunken oder Drogen genommen hat. Ich soll entscheiden, was mit ihrer Leiche geschieht. Es gibt zig Formulare, die ausgefüllt werden müssen. Jemand muss den Retzlaff-Clan informieren und die Beerdigung organisieren. Und so weiter und so fort. Du lässt mich mit all dem doch wohl nicht allein!«
»Eine Woche, Rixa. Gib mir eine Woche. Allerhöchstens zehn Tage.«
»Die Polizei sagt, die sind mit der rechtsmedizinischen Untersuchung fertig. Die wollen, dass ich morgen früh mit einem Bestatter dort antanze.«
»Die haben doch Kühlräume, wo sie sie lagern können.«
»Du sprichst von unserer Mutter, ist dir das eigentlich klar?«
»Ich will ja nur sagen, dass es kein Problem ist, wenn ich erst in einer Woche komme.«
»Für mich ist das aber ein Problem.«
Er schwieg.
»Ich arbeite auch, Alex. Ich muss zurück auf mein Schiff!«
»Ich zahl dir den Verdienstausfall. Okay?«
»Herrgott, Alex, darum geht es doch nicht.«
Es war absurd. Nein, es war traurig. Wir feilschten um Tage und Zuständigkeiten. Wir versicherten uns nicht einmal höflichkeitshalber, wie geschockt wir waren, oder fragten, wie es dem anderen mit dieser Nachricht eigentlich gehe. Als wäre unsere Mutter eine Schwerkranke gewesen, deren Tod eine lange erhoffte Erlösung war. Nein, als wäre sie schon vor Jahren gestorben, und es gäbe völlig unverhofft noch ein Nachspiel, das in etwa so lästig wie eine Steuernachforderung war.
Nimm meinen Schlüssel, für alle Fälle.
In meiner Brust krampfte sich etwas zusammen. Sie hatte sich umgebracht, ganz egal, ob sie nun angeschnallt gewesen war oder nicht. Sie hatte das alles von langer Hand geplant. Und ich hätte es wissen müssen, spätestens in dem Moment, als sie mir ihre Wohnungsschlüssel aufdrängte. Ich hätte es in ihrer Stimme hören und darauf reagieren müssen: sie häufiger anrufen. Hinfahren. Mit Alex darüber sprechen. Mit ihren Geschwistern. Ihrem Hausarzt. Dem Pfarrer, zu dessen Berliner Gemeinde sie gehörte, von mir aus auch mit ihren Nachbarn. Sie retten.
»Wir müssen doch zusammenhalten«, sagte ich und erschrak über die Hoffnungslosigkeit in meiner Stimme.
»Nach Ivos Tod hast du das anders gesehen.«
»Was soll das denn jetzt heißen?«
Schweigen, wieder Schweigen. Und in diesem Schweigen die Bilder jener Nacht vor zwölf Jahren, wie ein endloser Stummfilm.
»Wir kommen so nicht weiter, Rixa.«
»Nein. Wohl nicht.«
»Warst du schon in ihrer Wohnung?«
»Ich bin dorthin unterwegs.«
»Gut.«
Ich nickte, mechanisch. Beobachtete, wie der hochglanzpolierte Schuh eines Mannes die Hinterlassenschaft des Dackels nur um Zentimeter verfehlte. Ich wollte nicht in die Wohnung meiner Mutter fahren. Deshalb, nur deshalb hatte ich meine Fahrt
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