Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
das zu ihren Augen passte, und die dünne Goldkette mit dem Medaillon. Das Haar meines Großvaters war akkurat gescheitelt und noch blond, sein Kinn so kantig, wie ich es in Erinnerung hatte. Trotzdem wirkte er fremd, ja beinahe abwesend, und das Schwarz des Talars verlieh seinen eigentlich freundlich gemalten Gesichtszügen eine brütende Schwere.
»Warum hat der Maler Oma und Opa denn nicht auf ein Bild gemalt?«
»Aber Ricki, sie hatten doch keine Zeit, stundenlang Seite an Seite Modell zu sitzen.«
»Und warum hat er sie dann gemalt?«
»Fragen stellst du! Eigentlich sollte der Maler wohl nur ein neues Altarbild für die Kirche malen. Und während er das tat, lebte er bei uns im Haus, da hatten sie wohl die Idee. 1950 ist das gewesen. Man tauschte und mauschelte, und so bezahlte er Kost und Logis mit den beiden Porträts.«
Ich ging zurück in den Flur. Vielleicht ging es auch nicht um die Zeit, vielleicht wollte man durch das Einzelporträt die Amtswürde des Herrn Pastors betonen. Wieso waren meine Großeltern in den sicherlich harten Nachkriegsjahren überhaupt auf die Idee gekommen, sich malen zu lassen? War das eine Art Trotzreaktion auf den Krieg? Ein symbolisches, für alle sichtbares Hurra-wir-leben?
Ich hatte das nie gefragt, ich hatte so vieles niemals gefragt, dachte ich, während ich weitere Fenster öffnete, die Katzentoilette reinigte und die Verpackungsreste in der Küche zusammenfegte. Ich tat all dies sehr schnell und fand alle Putzutensilien mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit, obwohl ich in dieser Wohnung niemals zuvor etwas geputzt oder gekocht hatte. Ganz offenbar hatte ich das Ordnungssystem meiner Mutter verinnerlicht, obwohl ich bis zu diesem Moment hätte schwören können, dass eine solche Ähnlichkeit zwischen unserer Haushaltsorganisation keinesfalls existierte.
Die Luft, die von draußen hereinströmte, war eisig. Die Gesichter meiner Großeltern standen mir noch immer überdeutlich vor Augen, ja schienen mich regelrecht zu verfolgen. Der tote Sohn am Bett, die toten Eltern im Wohnzimmer. Hatte meine Mutter Zwiegespräche mit ihnen geführt und darüber vergessen, dass das Leben nicht anhielt? Waren ihr ihre Toten am Ende so nah gewesen, dass sie einfach nur zu ihnen wollte, endgültig, für alle Zeiten?
Ich ging ein weiteres Mal durch die Wohnung. Langsamer jetzt und noch aufmerksamer. Ich öffnete Schranktüren und zog Schubladen auf, ich legte mich auf den Teppich und spähte unter Möbel. Doch ich fand keine Katze und ich fand auch keine Erklärung, keinen Brief, kein Testament, keine Nachricht meiner Mutter für mich oder jemand anderen. Trotzdem erschien es mir, als ob ich ihr immer näher kam, näher als seit Jahren. Ihr oder meinen Erinnerungen an sie? Im Schlafzimmer nahm ich nun plötzlich einen Hauch ihres Maiglöckchenparfums wahr.
Lilly of the Valley
, ein Duft aus England, den mein Vater ihr immer geschenkt hatte. Das einzige Parfum, das sie hin und wieder benutzte. Ich zog die Schublade ihres Nachttischs auf, fand einen halb vollen Flakon darin, Papiertaschentücher, Schlaftabletten und einen Notizzettel, auf dem sie meine Handynummer und die Telefonnummer meiner Reederei notiert hatte. Meine Nummern, nur meine, nicht auch die von Alex. Wollte sie mich erreichen, hatte sie das versucht?
Ich strich mit der Hand über ihr Kopfkissen. Der Baumwollstoff war sehr weich und so glatt, als habe sie ihn eben erst gebügelt. Die Tagesdecke war so ordentlich drapiert wie in einem Hotel. Manchmal, wenn sie an mein Bett schlich und mir ihre Geschichten zuflüsterte, kam es mir vor, als würde ich sie retten, indem ich ihr zuhörte. Aber das durfte niemand erfahren, das war ein stummer Pakt allein zwischen uns beiden gewesen, unser Geheimbund, den wir in dem halb warmen Dunkel jener Nächte in meinem Kinderzimmer schlossen. Zwei Mütter hatte ich, nicht nur eine, das lernte ich damals. Es gab eine Tagmutter, die für uns kochte und mit uns spielte und auf unsere Schulaufgaben achtete. Die uns zum Turnen und zum Musikunterricht und zu Freunden fuhr und unser Haus und den Garten in Schuss hielt. Eine Mutter, die mehr oder weniger fröhlich war in diesem Leben. Und dann gab es die Nachtmutter, die gehörte nur mir, doch ich brachte sie nie recht zusammen mit der tatkräftigen Frau, die mich morgens weckte. Die Tagmutter war real, die Nachtmutter war eine unberechenbare Fee, sie gehörte in die Welt der Träume, und wenn ich Ivo und Alex von ihr erzählte, sahen sie mich
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