Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
mit einem Blick an, der mir zeigte, dass sie diese Nachtmutter nicht kannten und mir nicht glaubten.
Die Jungs verstehen das nicht
, sagte meine Mutter, als ich ihr das erzählte. Sie sagte das freundlich, aber ich spürte trotzdem, dass ich sie durch meine Redseligkeit enttäuscht hatte. Wie eine Verräterin fühlte ich mich auf einmal, ihres Vertrauens nicht wert, und ich weinte und schämte mich und bat um Verzeihung, ich konnte mich gar nicht beruhigen.
Ist ja gut
, sagte sie,
ist ja gut
. Aber danach dauerte es viele Wochen, bis sie wieder an mein Bett kam. Und so lernte ich, dass nicht nur die Geschichten der Nachtmutter, sondern auch ihre Existenz ein Geheimnis war. Dass es ein Tabu war, von ihr zu sprechen. Dass mein Schweigen der Preis für ihre Nähe war. Und dann war ich erwachsen geworden und hatte mich geweigert, noch länger zuzuhören, und als ich auszog, war es mir schon beinahe gelungen, unseren Pakt zu verdrängen. Doch die Nachtmutter hatte mich trotzdem begleitet, bis heute, erkannte ich nun. Ich hatte sie in mir getragen, sie und ihre Geschichten, sie lebte selbst jetzt noch, obwohl ihr Tagzwilling gestorben war.
Weinen können. Schreien. Meinen Kopf in ihrem Kissen vergraben, die akkurate Ordnung des Bettes zerwühlen, zerstören, mit Leben füllen. Irgendetwas anderes fühlen als diese bleischwere Schuld. Wieso konnte ich das nicht, wieso war ich wie erfroren, sie war doch meine Mutter? Ich schob die Nachttischschublade zu und rannte in den Flur, hob dort das Telefon ab und studierte die Liste der zuletzt gewählten Nummern. Meine Mutter hatte nicht versucht, mich zu erreichen, jedenfalls nicht von diesem Anschluss aus. Mich nicht, meine Reederei nicht und Alex auch nicht. Warum und wann hatte sie dann meine Telefonnummern notiert, und warum bewahrte sie die in ihrem Nachttisch auf, wollte sie mir damit irgendetwas sagen? Die letzte Nummer auf dem Digitaldisplay war die der Taxizentrale. Rief man sich ein Taxi, wenn man sich umbringen wollte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Womöglich waren meine Kontaktdaten in ihrem Nachttisch einfach ein Pfand ihrer Liebe und ihr Unfall war wirklich ein Unfall gewesen. Ein Schicksalsschlag. Ein Fluch, der auf unserer Familie lag und der dazu führte, dass wir uns immer am 7. Januar langsam, aber sicher, einer nach dem anderen dezimierten.
Ihr Kühlschrank war leer bis auf eine Tüte H-Milch und ein angebrochenes Glas Aprikosenmarmelade. Ich legte meine Wodkaflasche und die beiden Dosen Red Bull, die ich mir auf dem Weg hierher gekauft hatte, ins unterste Fach. Meine Mutter mochte keinen Alkohol, sie trank höchstens mal ein Glas Wein, trotzdem bewahrte sie in ihrem tadellos sauberen und leeren Gefrierfach zwei Tabletts mit Eiswürfeln auf. Um sich Longdrinks zu mixen oder einfach nur, weil sich das so gehörte? Ich schloss den Kühlschrank wieder und starrte ein weiteres Foto von Geistern an, mit denen sie gelebt hatte: Alex, Ivo und ich in Shorts und T-Shirts im Pfarrgarten von Poserin, drei glückliche Kinder, die nun in einem roten Plastikrahmen gefangen waren. Ich wandte mich ab. In dem Unterschrank neben der Spüle gab es Katzenfutter auf Vorrat – zehn Dosen und eine unangebrochene Packung Fischkekse, außerdem einen Sack frische Streu.
»Unsere Katzen durften nie ins Haus, das waren Nutztiere, die wurden nur toleriert, weil sie Mäuse jagten, Rixa. Und wenn eine krank wurde oder sie zu viele Junge warfen, ging mein Vater mit Knüppel und Sack in den Schuppen.«
»Opa hat Katzenbabys getötet?«
Ich klappte den Küchenschrank wieder zu. Es war lange her, dass ich an die Gutenachtgeschichte von meinem katzenmordenden Großvater gedacht hatte, aber nun, da ich mich wieder daran erinnerte, fand ich sie so verstörend wie damals. Nicht, weil ich immer noch so naiv war, zu glauben, ein Mann, der seinen Enkeln im Wald mit viel Liebe Tierfährten und andere Wunder zeigte und im Gottesdienst Achtung vor der Schöpfung anmahnte, sei nicht fähig, einen Wurf Kätzchen zu ertränken, sondern wegen meiner Mutter. Sie hatte in genau demselben Tonfall von den Kätzchen gesprochen, in dem sie mir all die anderen Abenteuergeschichten aus dem Leben der Retzlaffs erzählte. Warum hatte sie das getan, fragte ich mich jetzt nicht zum ersten Mal. Ich war damals noch klein, ging noch nicht einmal zur Schule. Warum nahm sie in Kauf, mich zu verstören, und log selbst dann nicht, als ich zu weinen begann, sodass sie meine Verzweiflung bemerken musste? Es wäre ein
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