Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
hochpäppelte, bis ein neues Zuhause gefunden war. Wie hatte sie gesagt, würde ihr aktueller Pensionsgast heißen? Orlando? Nein, Othello.
Ein herrlicher schwarzer Geselle, Rixa
.
Aber leider sehr scheu und fürchterlich mager.
Vielleicht war das ja der Anfang vom Ende gewesen. Sie brachte die Kraft nicht mehr auf, das Katzenklo zu reinigen, sie gab ihren Pflegling zurück oder setzte ihn aus oder ließ ihn verhungern, ihr war alles egal. Oder war etwas passiert, das sie Hals über Kopf aufbrechen ließ? Etwas, das gar nichts mit Ivos Todestag zu tun hatte? Hatte sie für ein Wochenende Wasser und Futter bereitgestellt – davon überzeugt, sie käme zurück, und wenn ja, wie lange konnte eine Katze ohne Nahrung überleben?
»Othello?«
Keine Antwort. Nichts regte sich.
Ich versuchte die Schnalzlaute zu imitieren, mit denen meine Mutter Katzen zu locken pflegte. Auf meiner Hutkrempe und in meinen Haaren schmolzen Schneekristalle zu Wasser. Ich warf Hut und Zeitungen auf die Kommode, legte meine Einkaufstüten und den Rucksack auf den Boden. Der Garderobenspiegel reflektierte meine Bewegungen. Sie kamen mir mechanisch vor, abgehackt, blutleer. Mein Haar hatte sich mit den Fransen der Stola verwoben, es wirkte wie Puppenhaar: eine glitzernde, purpurviolette Mähne.
»Katzen sind sauber, und im Profil sehen sie immer so aus, als ob sie lächeln, deshalb mag ich sie so.«
»Wieso holst du dir dann keine eigene? Vielleicht eine ganz junge, die sich an dich gewöhnt?«
»Die anderen brauchen mich mehr, Rixa.«
»Aber du leidest jedes Mal, wenn du dich wieder von einer deiner Katzen trennen musst.«
»Darum geht es doch nicht.«
»Worum geht es dann?«
»Ach, Rixa, nun lass mich, ich will das eben so.«
Der Gestank kam aus dem Bad. Seine Ursache war eine Katzentoilette, die offenbar intensiv benutzt, aber lange nicht gereinigt worden war. Der Küchenfußboden war mit den Resten einer zerfetzten Katzenkekspackung übersät, unter dem Fenster standen zwei leere Fressnäpfe aus rotem Kunststoff. Doch davon abgesehen war die Wohnung ordentlich und sauber und außer einem Weidenschlafkörbchen im Wohnzimmer fand ich nicht den kleinsten Hinweis auf die Anwesenheit einer Katze. Im Schlafzimmer waren die dunkelgrünen Vorhänge vors Fenster gezogen und das Bett gemacht. Auf dem Nachttisch zeigte ein silbern gerahmtes Foto Ivo als jungen Mann. Auch im Wohnzimmer sahen mir zwei Verstorbene entgegen: die in Öl gemalten Porträts meiner Großeltern – fast schien es mir, als hießen sie mich willkommen.
Ich wandte mich ab und betrachtete mein altes Klavier. Ein finnisches Modell, Hellas, sein Klang war bescheiden, aber das war meiner Mutter beim Kauf nicht so wichtig gewesen wie sein Nussbaumfurnier, das zum Esstisch passen sollte. Auch den hatte sie von Köln mit nach Berlin genommen, genauso wie Sofa, Sessel, Couchtisch und Regale. Doch all diese Möbel wirkten hier in diesem Zimmer fremd und deplatziert, und der Esstisch, an dem wir viele Jahre lang gegessen, gespielt, gezankt, diskutiert und gefeiert hatten, war viel zu groß für ein Leben ohne Besucher und Familie.
Der Schnee vor den Fenstern fiel jetzt so dicht, dass die Fassaden der Häuser gegenüber zu Schemen verwischten. Ich öffnete die Balkontür und lauschte ein paar Sekunden lang auf die für eine Großstadt unwirkliche Stille. Als Kind hatte ich mir eine Katze gewünscht, aber wegen der Allergien meines Vaters hatten wir nie eine gehalten. Und bei meinen Großeltern in Mecklenburg gab es zwar Katzen, aber das waren halbwilde Streuner, die wie Schatten ums Pfarrhaus huschten und sich mit Verve auf die Küchenabfälle stürzten, die meine Großmutter ihnen zuwarf. Sie waren nicht wählerisch, das konnten sie sich nicht leisten, und so sehr wir uns auch mühten, sie zu locken, gelang es uns nie, sie zu streicheln. Einmal hatten sie sogar das Bindfadennetz von dem Kasseler Rollbraten verschlungen, den wir zu Weihnachten über die Grenze geschmuggelt hatten, das faszinierte uns Kinder so sehr, dass wir jahrelang davon sprachen.
Ich schloss die Balkontür wieder, kippte stattdessen eines der Fenster. Warum hatte meine Mutter die Bildnisse ihrer Eltern hier in Berlin an so prominente Stelle gehängt? Empfand sie das auch als eine Art Wiedergutmachung, nachdem sie sie so früh verlassen hatte? Beide Bilder zeigten meine Großeltern in der Mitte ihres Lebens, nach dem Krieg, also auch nach der Geburt meiner Mutter. Meine Großmutter trug ein grünes Kleid,
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