Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
doch nicht alle Schuld der Welt auf die Schultern.
Ivos Sachen befanden sich in einem Abstellraum, ein glubschäugiges Phantasietier, das er in seiner Bildhauerphase aus Drähten und Gips geformt hatte, fungierte wie eh und je als Zerberus. ›Alex‹ hatte Ivo diese Kreuzung aus Fisch und Echse getauft und stets betont, sie sei absolut unverkäuflich. Doch das Innere des Stauraums war nicht wiederzuerkennen. Ivos unvollendete Gemälde standen nun in ordentlichen Fächern, seine Paletten und Pinsel waren in Regalen und Kästen penibel nach Größe sortiert, und über die deckellose Tastatur des Sperrmüllklaviers hatte jemand eine Plastikfolie gezogen.
»Eure Mutter ist manchmal hierhergekommen.« Piet war mir gefolgt. »Eigentlich wollte sie ursprünglich wohl nur ein Bild aussuchen, um es bei sich aufzuhängen. Aber dann hat sie einen ziemlichen Wirbel gemacht, weil es so unordentlich war. Ich habe ihr zwar erklärt, dass Ivo das so hinterlassen hatte, aber das ließ sie nicht gelten. Am nächsten Tag hat sie dann einen Schreiner angeschleppt, der dieses Ordnungssystem nach ihren Vorgaben gebaut hat.«
»Wann war das?«
»Vor etwa anderthalb Jahren.«
»Und wann war sie zum letzten Mal hier?«
»Im September.«
Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich uns zusammen in ihrer Wohnung am Tisch sitzen: den Kuchen zwischen uns, die Blumen, die unstillbare Sehnsucht, und draußen vor den Fenstern die Spätsommersonne, der Himmel, das Leben.
Alles in Ordnung hier, Rixa. Mach dir keine Sorgen.
Es war lächerlich. Grotesk. Nein, es war tieftraurig.
»In ihrer Wohnung hängt aber keins von Ivos Gemälden«, sagte ich, und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie seltsam das war, wie falsch, wenn sie seine Kunst doch so liebte.
»Sie hat auch keins mitgenommen, soweit ich weiß«, erwiderte Piet.
Ich kniete mich vor eins der Regale. Ivo hatte den Überfluss für seine Kunst gebraucht. Wenn er nicht weiterkam, stromerte er ziellos durch die Stadt oder entlang der Kanäle und Seen, und alles, was ihn eventuell inspirieren würde, schleppte er ins Atelier: Farben, Papiere, Treibhölzer, Kronkorken, Plakatfetzen, Fotos, die er mit seiner Kleinbildkamera aufnahm. Ich zog eine der Kisten heraus, dann die nächste und übernächste, stieß sie wieder zurück. Alles war sortiert, gesäubert, entzaubert. Falls es hier je eine Antwort auf all meine Fragen gegeben hatte, würde ich sie nicht mehr finden.
»Habt ihr noch Glühwein?« Ich hielt Piet meinen Becher hin.
»Drüben.«
Er ließ mich allein. Als ich so weit war, ging ich wieder zu ihm und Wolle in den Hauptraum des Ateliers und setzte mich auf die Werkbank unter dem Fenster, wie früher, und eine Zeit lang tranken wir, ohne etwas zu sagen. Aber es war ein gutes Schweigen, als ob etwas geklärt sei.
»Ich muss nach Sellin!«, wiederholte ich schließlich, als der Glühweintopf schon ziemlich leer war, und hörte selbst, dass meine Zunge mir nicht mehr so richtig gehorchte. Aber das war mir egal, nein, es war mir sogar recht. Kein Alkohol ist auch keine Lösung. Ein saublöder Spruch, einer der vielen Galgenhumorkalauer auf der Marina. Lorenz fiel mir plötzlich ein. Unsere Jamsessions und das Engagement als Jazz-Act, das er uns dank seiner Kontakte für die Sommersaison besorgen wollte. Er hatte mich wieder anrufen wollen, genau wie Alex. Die Entscheidung musste inzwischen gefallen sein, doch vielleicht brachte ich auch die Daten durcheinander.
Ein Taxifahrer, auf den Wolle schwor, fuhr mich in dieser Nacht zurück in die Wohnung meiner Mutter. Es schneite jetzt nicht mehr, doch die Stadt lag weiß und starr, auf den Fahrbahnen glomm das psychedelische Farbspiel der Ampeln und Leuchtreklamen. Einmal glitt ein Skilangläufer an uns vorbei. Surreal fast, in langen, rhythmischen Schwüngen.
Dann fand ich mich im Bett meiner Mutter wieder, unter seidigen Laken, die nach Maiglöckchen rochen. Und so war es wahrscheinlich dieser Duft und nicht der Glühwein, der den Albtraum aus meiner Kindheit zurückbrachte – so vertraut, als seien seit dem letzten Mal, als ich ihn geträumt hatte, nicht Jahrzehnte vergangen, sondern Tage.
Ich bin winzig in diesem Traum. Ich bin hilflos und hungrig und ich kann noch nicht sprechen oder laufen. Wärme brauche ich. Nahrung und Schutz. Und all das ist ganz nah, denn ich fühle die Haut meiner Mutter an meiner, milchig und weich, ich kann sie riechen. Aber wir sind nicht allein, da ist noch jemand bei uns, ich höre Stiefel. Ein Mann.
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