Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
solch einer Täuschung zum ersten Mal aufgesessen, und so war es paradoxerweise gerade die Freude gewesen, die mich begreifen ließ, wie endgültig der Tod war, durch nichts revidierbar.
Ungefähr ab diesem Zeitpunkt drangen dann auch die ersten Details von Ivos Unfall zu mir durch: die Fakten aus dem Polizeibericht – akribisch aufgelistet, entsetzlich banal und letztlich doch nichts erklärend. Die Aussage Piets, mit dessen Auto Ivo verunglückt war. Bruchstücke meiner eigenen Erinnerungen an die Stunden im Atelier, bevor er losfuhr. Ich hatte mich beiläufig und alles andere als herzlich von ihm verabschiedet, denn ich war übermüdet gewesen und steckte mitten in den Vorbereitungen für mein Abschlusskonzert. Außerdem durchlebte Ivo gerade eine seiner hyperaktiven Phasen und ging mir mit seiner Hippelei und Ich-Bezogenheit auf die Nerven. Und aus all diesen Splittern war in meinem Kopf allmählich eine Art Chronik der Ereignisse entstanden, eine 3-D-Technicolor-Dolby-Stereo-Allround-Version, die mir nach und nach wie die Wahrheit vorkam.
Er hatte gekifft, daran bestand kein Zweifel. Er hatte getrunken. Einige Tage vor dem Unfall hatte er mit einem neuen Gemäldezyklus begonnen, den er Kindheit nannte.
Ich versuch das mal hyperrealistisch, Rixa. Öl auf Leinwand, Großformat, ganz klassisch. Aber ich nehm keine Totalen, sondern greif mir was raus: Opas Badehose mit der grünen Kordel neben seinen frisch gestärkten Beffchen auf der Wäscheleine. ’ne DDR-Bierpulle und ’ne Schachtel Karo im Strandhafer bei Zietenhagen. Die Holzwurmlöcher in der Kirchenbank.
Ich konnte ihn noch immer vor mir sehen an jenem Nachmittag, von dem ich nicht gewusst hatte, dass es unser letzter war. Er hält einen dünnen, akkurat gerade gedrehten Joint zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken und traktiert mit der rechten Hand unablässig die Leinwand. Ab und zu verharrt er und kneift die Augen zusammen, weil etwas noch nicht stimmt, noch nicht genau so ist, wie er es haben will, dann geht er hin und her und pafft in kurzen, wütenden Zügen. Und schließlich der Entschluss, abends, spätabends: Er muss raus aus dem Atelier, er muss seine Motive in Mecklenburg finden, das Licht noch mal angucken, die Farben. Er muss an die Ostsee und zwar jetzt, augenblicklich, sofort, sonst kann er nicht malen, sonst wird er durchdrehen.
Es schert ihn nicht, dass er alles andere als nüchtern ist und in den Nächten zuvor kaum geschlafen hat. Es ist ihm auch egal, dass das Profil der Reifen von Piets rotem Kasten-R4
runtergefahren und der rechte Frontscheinwerfer defekt ist. Die Grenze ist weg und das Auto ist da, verfügbar, im Hof unter dem Atelier, und Piets Stereoanlage ist zwar auch nicht mehr die jüngste, aber laut, wie er das liebt.
Marillion
hatte er gehört auf dieser letzten, allerletzten Fahrt. Und noch drei weitere Marihuanazigaretten geraucht. Auch das stand im Unfallbericht der Polizei. Drei Kippen mit seinem Speichel im Autoaschenbecher und die Kassette im Tapedeck haben das bewiesen.
Ich wusste nicht, ob er
Marillion
öfter hörte. Vermutlich nicht, vermutlich hatte er einfach in Piets alten Kassetten im Handschuhfach gewühlt und eine nach der anderen ins Tapedeck geschoben, und zufällig traf
Marillion
genau seine Stimmung. Pathetisch und ein bisschen altmodisch und hochemotional, als gelte es jetzt, nur noch jetzt, als gäbe es nur diese einzige Chance, eine einzige Aussicht auf Glück, diesen Moment – und so war es dann ja auch.
»Ich will das Extreme, Rixa, nee, Quatsch, ich brauch das. Darum geht es in der Kunst, sonst kann man sich doch gleich aufhängen oder so’n oller Sesselpupser werden.«
Und so fuhr er durch die Nacht, über die AVU und die A 19 nach Norden. Hinter sich Leinwände und Farben und zwei Flaschen Rotwein. Vor sich die Zukunft, an die er glaubte. Ich wünschte mir jedenfalls, dass es so gewesen war. Ich wünschte mir, dass er glücklich war. Dass er einfach einschlief und nicht mehr bemerkte, wie der Wagen die Spur verlor, auf den Betonpfeiler zuraste und zerschellte. Dass er keine Angst fühlen musste, keinen Schmerz, kein Entsetzen. Und dass es ihm, falls irgendein Teil von ihm immer noch irgendwo existierte, dort an nichts fehlte.
Und wenn er überhaupt nicht an die Ostsee unterwegs gewesen war, sondern nach Sellin? Wenn auch sein Tod gar kein Unfall, sondern Absicht gewesen war, und dieses Bild, das ich mir aus all den Erinnerungssplittern zusammengesetzt hatte, nicht der Wahrheit
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