Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Kirche, beide zeigten in dieselbe Richtung. Die Bleistiftmarkierung auf der Straßenkarte meiner Mutter fiel mir ein, der hellblaue Fleck neben diesem Dorf, Sellin. Sie war hier gewesen, plötzlich war ich mir sicher. Dieses halb tote Dorf war tatsächlich das Ziel ihrer Reisen gewesen, warum auch immer.
Die Kirche lag am Ortsrand, versteckt zwischen riesigen Bäumen, ein Hinweisschild wies sie als Kulturdenkmal aus. Die Zufahrt zum Kirchhof mochte im Sommer für Autos passierbar sein, jetzt aber war sie zu verschneit, als dass man es nur hätte versuchen können. Ich folgte einem Trampelpfad entlang einer Feldsteinmauer, sank bei jedem Schritt ein. Grabkreuze ragten über die Mauer. Grau und verwittert. In einem der kahlen Bäume hockten stumme Krähen.
Die Kirche war klobig: drei gedrungene Schiffe aus Feldstein und roten Ziegeln, selbst der Turm sah gestaucht aus. Hinter der Kirche war Sellin wieder zu Ende. Tief verschneite Hügel wellten sich von hier aus bis zum Waldrand und links in einer Senke lag der See von der Landkarte. Ein einsames Haus, das das Pfarrhaus sein musste, stand an seinem Ufer.
Es war vollkommen still, auf einmal fiel mir das auf. Das einzige Geräusch war das leise Knirschen des Schnees unter meinen Stiefeln. Das Haus war im Laufe der Jahre schief geworden und wirkte winzig im Vergleich zu der Kirche und zu dem Baum, dessen mächtige Krone über ihm in den Himmel wuchs. Die Fassade bestand aus rotem Backstein und Fachwerk, aus den Ritzen kroch Efeu, die grüne Eingangstür zierten Holzreliefs, die vor langer Zeit sicher einmal mit viel Liebe geschnitzt und gepflegt worden waren, nun aber dringend einer Restaurierung bedurften, zumal irgendein rechtsradikaler Idiot auf einen der Türflügel ein Hakenkreuz geschmiert hatte.
Keine Fußspuren, die zum Eingang führten, außer meinen. Kein Namensschild an der Tür, keine Klingel, dunkle Fenster, die aber offenbar neu waren, doppelt verglast, jedenfalls waren sie nicht vereist. Ich ging um das Haus herum und spähte in weitere Zimmer. Das Gelände, das wohl der Pfarrgarten gewesen war, wirkte wie ein Gemälde. Der See war von hier aus zum Greifen nah: Eine weiße, unberührte Fläche mit raureifbleichem Schilf, Schuppen, Steg und festgefrorenem Kahn. Ein typisches Mecklenburgpanorama, es kam mir vor wie ein Gruß aus der Vergangenheit, schien dem Blick aus dem Pfarrhaus von Poserin beinahe zum Verwechseln ähnlich. In einer wüsten Vision sah ich meine Großmutter in dieser eisigen, makellosen Leere Pirouetten drehen und den Nöck rufen, während mein dreizehnjähriges Ich noch immer frierend im Schilf kauerte, wie nach jenem missglückten
Winterreise
-Konzert. Ich fror auch jetzt, merkte ich auf einmal, aber das lag nicht am Wetter, das kam von innen.
Ich wandte mich wieder zum Haus und vollendete meinen Rundgang. Der letzte Raum, den ich einsehen konnte, war die Küche mit einem antiken Holzherd und Spülstein. Und hier gab es auch noch weitere Möbel: einen Tisch, einen Stuhl und ein Feldbett. Das Bett wirkte unberührt, auf dem Tisch standen ein Kerzenhalter und eine Weinflasche, möglicherweise schon seit Jahren.
Etwas ist da und doch nicht da. Ein Satz, der keinen Sinn ergibt, trotzdem dachte ich ihn. Ich lief zurück zum Eingang, rüttelte an der Tür und rieb aus einem Impuls heraus mit dem Zeigefinger über das Hakenkreuz. Ein Farbsplitter löste sich, doch das Schwarz der Schmiererei war tief in das Holz gedrungen. Seit wann war die Tür so verschandelt? War dieses Pfarrhaus das Ziel meiner Mutter gewesen, hatte sie das Hakenkreuz gesehen und einfach dort belassen? Ich musste in dieses Haus. Jetzt. Sofort. Ich probierte den ersten ihrer Schlüssel aus, dann den zweiten. Ohne den kleinsten Widerstand glitt der ins Türschloss, ließ sich drehen, brach ab. Doch es hatte funktioniert – die Tür war geöffnet!
Kaltes Dämmerlicht empfing mich drinnen. Der Geruch nach alten Holzdielen. Staub. Ich kam mir auf einmal vor wie in einem Traum. Die Dielen knarrten unter meinen Füßen, das Haus schien zu atmen. Die Küche lag rechts, vom Fenster aus blickte man auf den See. Ich betrachtete das Feldbett, den Spülstein, die leere Flasche. Chardonnay. Ein winziger Rest tropfte heraus, als ich die Flasche umdrehte, und erfüllte den Raum mit säuerlichem Geruch. Die Asche im Herd war kalt, doch es gab einen sauber gestapelten Vorrat trockener Holzscheite. Im Spülstein standen keine Gläser, das Feldbett wirkte unbenutzt. Ich schlug die
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