Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Wolldecke zurück und blickte direkt in die Knopfaugen eines orange-braunen Spielzeuglöwen. Herr Sondermann, Ivos Lieblingsstofftier. Zu seinem dritten Geburtstag hatte meine Mutter ihm den gestrickt. Ich hatte nicht gewusst, dass der noch existierte.
Sie war also hier gewesen, bevor sie sich und zwei weitere Menschen zu Tode fuhr. Sie hatte hier in dieser Küche eine Flasche Weißwein aus Südafrika getrunken, einen Sommerwein, mitten im Januar. Allein oder in Begleitung? Allein, dachte ich, allein mit Herrn Sondermann, um den ich Ivo damals glühend beneidet hatte, den ich so gern nur ein einziges Mal von ihm ausgeliehen bekommen wollte – und jetzt hatte ich ihn geerbt und konnte seinen Anblick nicht ertragen.
Ich zog die Wolldecke wieder über dem Bett zurecht und setzte mich auf den einzigen Stuhl, den es gab, immer noch mit der Flasche in meiner linken Hand – hellgrünes Glas, das sich unter meinen klammen Fingern allmählich erwärmte. Das Haus schien zu atmen, auf etwas zu warten. Die Welt draußen war unwirklich, durchsichtig, aller Farben beraubt. Was hatte meine Mutter in ihren letzten Stunden hier empfunden? Wie hatte sie es hier überhaupt jemals ausgehalten? Nächtelang, tagelang? Und warum besaß sie zu diesem Haus einen Schlüssel? Othello fiel mir ein, der hungrige schwarze Kater, den sie aufpäppeln wollte und auf ihre seltsam verquaste Art wohl liebte. Vielleicht war ihr Unfall also doch ein Unfall gewesen. Vielleicht hatte sie niemals vorgehabt, sich umzubringen, sondern plante, in diesem Haus, unweit der Autobahn, auf der ihr Lieblingssohn ums Leben gekommen war, an ihn zu denken, um dann am nächsten Morgen, wenn sein Todestag zum zwölften Mal überstanden war, nüchtern nach Berlin zurückzukehren. Und dann hatte sie sich aus irgendeinem Grund plötzlich umentschieden, mitten in der Nacht, benebelt vom Wein und der Schlaftablette, die sie aus Gewohnheit bereits geschluckt hatte. Vielleicht hatte sie die Stille nicht mehr ertragen, die Stille und die Erinnerungen, die sich darin verbargen. Und also war sie Hals über Kopf aufgebrochen und hatte die falsche Auffahrt erwischt.
Ich starrte das Feldbett an, starrte die Flasche an, holte aus, ohne nachzudenken, und schmetterte sie auf den Boden, dass tausend Scherben flogen und schrien. Ich lauschte dem Klang nach und rührte mich nicht. Ich schaffte es nicht mal, die Tränen abzuwischen, die mir nun plötzlich über die Wangen strömten.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß. In meiner Wahrnehmung waren es nur wenige Minuten, Wolle und Piet behaupteten später, es wären über zwei Stunden gewesen. Sie waren es jedenfalls, die mich zurück in die Gegenwart holten, weil sie nach mir riefen. Ich stand auf, mühsam. Mein Körper war steif, meine Beine taten weh. Das Licht über dem See, das es an diesem Tag ja eigentlich gar nicht richtig gegeben hatte, begann wieder zu schwinden. In die Diele war Schnee geweht, denn die Tür stand weit offen, wie lange schon, konnte ich nicht sagen. Ich lehnte mich an den Türrahmen und sah hinüber zur Kirche, was sich auf eine absurde Weise vertraut anfühlte: Als kennte ich diesen Ausblick, als wäre ich hier tatsächlich schon einmal gewesen. Mir war schwindlig, ich fror und ich hatte Hunger. Ich hatte schon vor Jahren aufgehört zu rauchen, sehnte mich aber intensiv nach einer Zigarette – irgendein Gift, um mich wieder zu erden.
Wolle und Piet standen vor der Kirche und begannen zu laufen, als sie mich entdeckten. Aber sie waren nicht allein, denn von der anderen Seite pflügte eine sehr korpulente, wild gestikulierende und laut zeternde Frau in Knallviolett durch den Schnee, was der Szene einen weiteren Kick ins Irreale gab.
»Einbruch …« verstand ich, »Hausfriedensbruch … schon wieder … kein Respekt … Ärger … nicht durchkommen …«
Ich blieb stehen, wo ich war, hob nur beschwichtigend die Hände. Die Frau war schnell, trotz ihres beträchtlichen Körperumfangs. Schneller jedenfalls als Piet und Wolle.
»Wie sind Sie hier rein gekommen, was erlauben Sie sich?«, keuchte sie, als sie mich erreicht hatte.
»Ich hatte einen Schlüssel von meiner Mutter, aber der ist leider kaputtgegangen, weil –.« Ich brach ab, suchte nach den richtigen Worten.
»Ihre Mutter?« Die Frau starrte mich an, mit weit aufgerissenen, violett ummalten Augen. Dann fing sie auf einmal an zu lächeln.
»Aber ja, jetzt sehe ich das. Die Augen, nicht wahr? Und die Nase. Das lässt sich nicht
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