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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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verleugnen. Das ist ganz eindeutig.«
    »Sie kennen meine Mutter?«
    »Dorothea? Natürlich. Das hier ist doch ihr Haus.«
    »Ihr Haus? Sie meinen, es gehört ihr?«
    »Sie hat es gekauft«, sagte die Frau in Lila, als wäre das ganz normal. »Sie wurde hier geboren.«

Theodor, 1930
    Die Nacht ist sehr klar und birgt eine erste Ahnung von Frost, eine hauchdünne Mondsichel steht über dem See wie gemalt und doch unerreichbar. Oktober. Tagsüber hat die Sonne noch Kraft und die Luft flirrt und sirrt von den Schreien der Wildgänse. Aber jetzt ist es still und der See schwarzes Glas. Sterne spiegeln sich darin und zersplittern im Schlag seiner Ruder. Theodor treibt den Kahn weiter hinaus, riecht das Wasser, lauscht dem leisen Glucksen der Riemen. Noch versperren ihm an dem Ufer, das hinter ihm liegt, Buschwerk und Bäume den Blick auf das Pfarrhaus, doch sobald er die Mitte des Sees erreicht hat, wird er die beleuchtete Veranda erkennen, und er weiß, dass Elise und die Gäste dort nun schon bereitstehen, um das Spektakel, das er ihnen versprochen hat, nicht zu verpassen.
    Er legt sich in die Riemen, kräftiger jetzt. Der bisherige Verlauf dieses Abends war ein Erfolg, auch wenn das Huhn, das Elise servierte, wohl nicht mehr das jüngste war. Doch die Gäste haben dennoch zugelangt und Elises Soße und die roten Rüben aus dem Garten gelobt. Und was kann man in diesen Zeiten schon erwarten? Man muss Gott danken für jeden Tag und für jede Mahlzeit, man muss nur an die elenden Tagelöhner denken, die der Hunger nur so dahinrafft, dabei hat der Winter noch nicht einmal begonnen.
    Aber es gibt Hoffnung, endlich, so sehen das auch seine Gäste. Über achtzehn Prozent hat dieser Hitler mit seinen Nationalsozialisten bei der Reichtagswahl am 14. September geholt. Die zweitstärkste Kraft im Land sind sie jetzt, und entgegen aller Unkenrufe ist es deshalb weder zu Tumulten noch zu einem weiteren Putsch gekommen, ganz im Gegenteil, Hitler hat sogar einen Eid auf die Demokratie geschworen. Er ist also lernfähig, hat Landrat Petermann dazu gesagt, als sich die Herren mit Zigarren und Wein ins Studierzimmer zurückgezogen hatten. Die Haft damals hat ihm die Flausen aus dem Kopf getrieben. Und trotzdem wird er seinen Weg sicher konsequent weiter beschreiten und aufräumen, was da aufzuräumen ist. Es gibt Hoffnung für unser Vaterland, glauben Sie mir, lieber Pfarrer Retzlaff. Dieser Hitler wird uns vom Joch der Reparationsforderungen befreien und dann kann uns selbst die amerikanische Wirtschaftskrise nichts mehr anhaben.
    Das Pfarrhaus – da ist es. Theodor lässt die Ruder sinken. Wie festlich das Licht aus den Fenstern strahlt, wie festlich ihm selbst nun zumute wird. Und die Gäste sind da und warten auf das Spektakel, das er ihnen angekündigt hat. Petermann und der deutlich fülligere Propst Becker stehen in der Mitte, die drei Damen etwas abseits, mädchenhaft zart wirkt Elises deutlich kleinere Silhouette. Seine Frau! Bestimmt ist ihr in ihrem grünen Seidenkleid schon wieder kalt, auch ihr geliebtes Kaninchenpelzcape, das zu tragen sie im Poseriner Alltag zu ihrem Bedauern so gut wie nie eine Gelegenheit hat, kann daran wohl nichts ändern. Aber schön sieht sie darin aus, bildhübsch und mondän – nicht wie eine Mutter von inzwischen drei Kindern, die ihr Hausregiment nach einigen Anfangsschwierigkeiten inzwischen fest im Griff hat. Es war richtig, sich für sie zu entscheiden, sein Gefühl hat ihn nicht getrogen! Auch Petermann hat ihm schon mehrfach zu seiner schönen Frau gratuliert, und in der Kirche erntet sie viele bewundernde Blicke. Und nun ist noch ein weiteres Kind unterwegs, hat sie ihm vorhin verraten. Und im nächsten Jahr kommt auch Richard, der Zweitälteste, schon in die Schule.
    Wird es ihm im Leben einmal besser ergehen als dem toten Onkel, dessen Namen er trägt? Wird er zur vollen Blüte seiner Kraft heranwachsen dürfen und einst eine eigene Familie gründen? Man kann es nicht vorhersagen, man kann nur hoffen, ist auf Gottes Erbarmen angewiesen, auf seine Gnade, so steht es ja auch im Römerbrief.
    Die Zeit rast und fliegt wie ein Sturm, reißt sie alle hinfort –. Nein, halt, so will er jetzt nicht denken, nicht heute. Dieser Abend ist gut. Ein Lichtblick. Eine Feier mit Freunden, die ihm und Elise schon so viel Gutes getan haben, dass es nicht nur Pflicht, sondern Freude ist, sich mit einer Einladung zu revanchieren.
    »Denn ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht.« Auch

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