Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
das steht im Römerbrief. Er schließt einen Moment lang die Augen, wiederholt den Vers halblaut. Warum kommt ihm der gerade jetzt in den Sinn? Vielleicht liegt es an Landrat Petermann, an dessen Blick, wenn er mein lieber Herr Pfarrer sagt, um ihn in einem Disput doch noch von seinen Argumenten zu überzeugen. Aber natürlich kann man von einem Politiker wie Petermann Frömmigkeit und Demut nicht im gleichen Maße erwarten wie von einem Kirchenmann. Und das muss ja auch nicht sein, wenn nur jeder das Seine dazu beiträgt, dass es mit ihrem geschundenen Vaterland wieder aufwärts geht.
Hoffnung! Aufbruch! Es kann Gott doch nicht ganz egal sein, was mit dem deutschen Volk geschieht. Theodor rückt den Feuerwerkskörper in Position und tastet nach den Streichhölzern. In der rechten Jacketttasche sind sie nicht, sondern – ein kurzer Schreck – in der linken. Es muss wohl am Wein liegen, dass er sich das falsch gemerkt hat, er trinkt ja nur selten.
Er schlägt das Streichholz an, schützt die Flamme mit der Hand und führt sie an die Zündschnur. Funken stieben, schwefelgelb und orange, versprühen, ohne zu zünden, doch dann erlöst ihn ein Zischen, und mit einem Jaulen schießt die Rakete in die Nacht und ergießt ihre Pracht in den Himmel. Einmal und noch einmal, und übers Wasser schallt der Beifall seiner Gäste.
Und nun schnell zurück – aber wo sind die Ruder? Er leuchtet mit einem weiteren Streichholz, leuchtet in alle Richtungen, kann sie nicht entdecken. Doch vor ihm steht Schilf, also Ufergebiet – aber leider das falsche, der verflixte Kahn ist in eine Strömung geraten und hoffnungslos abgetrieben.
Er wird heimlaufen müssen, es bleibt ihm nichts anderes übrig. Denn ein pitschnasser, halb nackter Pfarrer, der seinen Gästen vor die Füße krabbelt, ist schlicht undenkbar. Halb um den See herumlaufen, er ist gut zu Fuß, doch das dauert bestimmt dreißig Minuten. Und Elise wird nervös, wenn sie allein mit den Gästen ist. Hoffentlich schlägt sie sich wacker und sagt nichts Falsches.
Das Schilf um ihn raschelt und wispert wie in Elises Lieblingslied, als er aus dem Boot ins knietiefe Wasser steigt. Dann wird alles ganz still und unwillkürlich bleibt Theodor stehen und blickt hoch zum Himmel. Aber der ist nun wieder dunkel, dort sind nur der kraftlose Mond und ein paar kalte Sterne. Also weiter, weiter, die Gäste sollen doch nicht auf ihn warten. Etwas drückt sich in seine Ferse, schneidet, schmerzt. Er drängt schneller zum Ufer, hält Hose und Schuhe fest umklammert. Die verlorenen Ruder waren nur ein Missgeschick, sagt er sich vor. Keine Strafe und kein böses Omen.
TEIL II
REGENTEE
10. Rixa
»Sie irren sich, meine Mutter wurde in Güstrow geboren«, sagte ich.
Die Frau in Lila, die sich mir inzwischen als Moni von Moni’s Beauty-Oase vorgestellt hatte, nickte, ohne mir zu glauben, das war deutlich zu sehen.
»Güstrow, das steht auch in ihrem Ausweis. Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass das nicht stimmt? Hat meine Mutter Ihnen das erzählt?«
»Meine Oma sagt das. Die lebt hier in Sellin, seit sie vor 88 Jahren zur Welt kam. Klar, sie ist alt und oft verwirrt, dement von mir aus, aber was die Vergangenheit angeht …«
»Mein Schlüssel ist abgebrochen.« Ich deutete auf die Tür, konnte den forschenden Blick dieser Fremden plötzlich nicht mehr ertragen.
»Die Vergangenheit holt die Alten am Ende wieder ein«, erklärte Moni, als hätte ich sie überhaupt nicht unterbrochen. »Das erlebe ich ständig, nicht nur bei meiner Oma. Manche erkennen zum Schluss die eigenen Nachbarn oder Enkel nicht mehr und vergessen sich anzuziehen, aber frag sie nach früher – schon wissen die alles.«
Ein paar fahle Schneeflocken trudelten aus dem Himmel. Hinter Moni traten Wolle und Piet von einem Fuß auf den anderen, meine beiden geduldigen, stummen Wächter. Ich dachte an Alex, meinen Vater, Onkel Richard, die Beerdigung. All diese Anrufe, all diese Lügen.
»Ich kann das Schloss für Sie reparieren lassen«, sagte Moni. »Wieso kommen Sie denn auf einmal und nicht Dorothea?«
»Wann haben Sie meine Mutter zum letzten Mal gesehen?«
»Letztes Wochenende, aber nur kurz, weil ich mit dem Chor unterwegs war.«
»Und sonst, ich meine, waren Sie näher mit ihr –?«
»Befreundet, meinen Sie? Nein, das kann man so nicht sagen. Sie ist immer freundlich, aber sie redet ja nie viel und ist gern alleine.«
Allein, immer allein. Allein mit ihren Geistern und mit einem Stofflöwen. Was
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