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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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siehst, nannten wir das. Redest du eigentlich nie über irgendwas Privates, hatte Lorenz mich gefragt, als er neu auf der Marina war und wir uns noch nicht so gut kannten.
    Ich dachte an meine Mutter, ihre zwei Gesichter. Das der geschäftigen Tagfrau, die dennoch immer in eine Art Stille gehüllt war. Und das der Nachtmutter, die an mein Bett schlich und ihr Schweigen brach, und trotzdem nie alles zu sagen schien, was sie wusste, sondern immer nur Splittergeschichten mit weiteren Rätseln. Dorothea Hinrichs, geborene Retzlaff, geboren am 20. Dezember 1945 in Güstrow. Hatte diese Moni recht, stimmte selbst das nicht? Aber warum stand dann Güstrow in ihrem Ausweis – und warum hatte meine Mutter nie von Sellin gesprochen? Sie nicht und Richard nicht und auch kein anderes ihrer Geschwister?
    Die Leute reden zu viel, Ricki. Reden oft, ohne überhaupt etwas zu sagen. Dabei ist es wichtiger, dass man lernt zu hören.
    Ich dachte an Lorenz, an Ivo, an Piet. Ich dachte an all meine gescheiterten Versuche, die Stille meiner Mutter zu durchbrechen. Doch ich scheiterte immer, ja es schien, als machte jeder meiner Versuche, in sie zu dringen, ihr Schweigen nur dichter. Ich hatte das gehasst – und es trotzdem von ihr übernommen. Vielleicht auch geerbt. Ich war nicht anders als sie. Bis zu diesem Moment war mir das nicht einmal bewusst gewesen.
    Ich streckte die Hand aus und berührte Piets Arm, zwang ihn, mich anzusehen.
    »Du bist nicht schuld, Piet. Du nicht.«
    Er schüttelte den Kopf, schaffte ein schiefes Lächeln. »Ich hätte den Autoschlüssel nicht im Atelier lassen dürfen. Ihn einfach einstecken müssen. Ich wusste doch, wie Ivo war, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hatte. Dass er nicht aufgab, bevor er am Ziel war.«
    »Und ich wusste das auch, sogar besser als du. Und er hat mich gefragt, ob ich mit ihm fahre, nicht dich. Mich, seine Schwester.«
    »In meinem Auto.«
    »Und ich habe Nein gesagt. Weil ich blöd war. Vernagelt. Weil ich an meine Prüfung gedacht habe und Klavier üben wollte. Weil er mich genervt hat.«
    »Du hättest an dem Abend doch sowieso nicht mehr fahren können.«
    »Ich war längst nicht so betrunken wie Ivo.«
    »Ich auch nicht. Und trotzdem hab ich den Scheißautoschlüssel im Atelier liegen lassen.«
    Wolle trank seinen Grog aus, in einem einzigen Zug, sah erst mich an, dann Piet.
    »Ivo war erwachsen, verdammt noch mal. Wie wär’s, wenn ihr das endlich mal zur Kenntnis nehmt.«
    Ich dachte an die Joints im Aschenbecher. An Marillion. An die Schlägereien, in die Ivo als Kind geraten war, wenn er seinen Willen nicht bekam. An die Unfälle, die er gebaut hatte, weil er mit seinen Gedanken woanders war. An seine nächtlichen Anrufe bei mir, wenn er etwas verbockt hatte:
Rixa, Schwesterlein, du musst mir mal helfen
.
    »Wolle hat recht.« Ich stieß mein Glas gegen Piets. »Du bist wirklich nicht schuld. Tut mir leid, dass ich dir das nicht früher gesagt habe.«
    »Na endlich!« Wolle signalisierte der Bedienung, uns eine zweite Runde Grog zu bringen.
    »Ich muss zurück nach Berlin«, sagte ich.
    »Keine Chance.« Wolle zeigte nach draußen. »Nicht mehr heute.«
    Othello fiel mir wieder ein, der magere schwarze Kater. Wartete er auf mich? Oder wartete er immer noch auf meine Mutter? War es ihr ganz genauso gegangen wie jetzt mir? Mitten in der Nacht, nachdem sie ihren Wein ausgetrunken hatte? Hielt sie den Gedanken nicht aus, dass der Kater sich grämte? Stieg sie deshalb betrunken ins Auto, wollte sie ihn retten?
    Die Bedienung brachte unsere Lasagne und drei weitere Gläser mit Grog. Ich protestierte nicht. Die Vorstellung, an diesem Tag nichts mehr entscheiden zu müssen und meine Familie nicht durch weitere Telefonate und Nachforschungen in der Wohnung meiner Mutter demontieren zu müssen, war zu verlockend.
    »Gibt es hier in der Nähe ein Hotel?«, fragte Wolle die Kellnerin.
    Sie legte den Kopf schief und strich sich eine hellblonde Haarsträhne hinters Ohr, blickte raus in den Schnee, dann wieder auf uns.
    »Unsere Pension ist im Januar eigentlich geschlossen, aber ich kann den Chef anrufen und fragen, ob er eine Ausnahme macht, wenn Sie das wollen.«
    »Tun Sie das, bitte.« Wolle zwinkerte ihr zu und sie wurde tatsächlich ein bisschen rot.
    Ich hatte dem Kater Futter hingestellt. Futter und Wasser. Er würde diese Nacht allein auf jeden Fall überleben. Ich schnitt in meine Lasagne und erinnerte mich an das Mecklenburg meiner Kindheit, dieses so viel dunklere,

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