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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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leisere Deutschland, in dem es keine Lasagne oder Pizza oder Döner gegeben hatte, ja nicht einmal einen Platz im Restaurant, wenn man dem Kellner nicht gefiel oder einfach unangemeldet hereinplatzte. Ich dachte an meine Mutter und was genau sie in Sellin gesucht hatte, damals mit mir und meiner Großmutter, und heute; und einen Augenblick lang sah ich sie sogar die Verandatür zum Garten für Othello öffnen und lächeln, weil niemand mehr da war, um ihn einzufangen und zu ertränken.
    Du bist wie Opa
, hatte sie geschrien, wenn sie wütend auf Ivo war, was nur selten vorkam. Und Ivo hatte sie natürlich nicht ernst genommen, sondern gelacht.
Du meinst, ich bin heilig wie ein Pfarrer? Vielen Dank für die Blumen, das ist ja super!

Elise, 1931
    Naußen!
hieß das erste Wort, das sie je gesprochen hat. Nicht Mama, nicht Papa, wie andere Kleinkinder, sondern
naußen! naußen!
Natürlich kann sie selbst sich daran nicht mehr erinnern, die Eltern haben ihr das erzählt, wieder und wieder: dass ihr die Welt draußen so viel schöner erschien als die behagliche Wohnung – die Straße, die Stadt, der Park, ja sogar der Balkon mit den hübschen Blumen, die der Vater dort in allerlei Kübeln und Kästen anpflanzte. Alles erschien ihr sehr viel reizvoller als die stille Gemeinschaft mit ihren Eltern.
Naußen –
draußen. Sie kann sich nicht genau erinnern, aber sie weiß noch um diese Sehnsucht, die sie als Kind gefühlt hat. Diese Sehnsucht, die die Eltern so bekümmerte. Ihre Schuldgefühle, die damit unweigerlich verknüpft waren, die Sehnsucht aber nie besiegten.
Naußen.
Jetzt erst versteht sie, wie sehr sie die Eltern verletzt hat. Jetzt, da sie eigene Kinder hat. Jetzt, da es für ihre Reue zu spät ist.
    Der Wäschewagen holpert hinter ihr her, droht ihr in die Knie zu fahren, weil der Weg hinunter zum See so abschüssig ist. Sie stemmt sich dagegen, fängt an zu schwitzen. Aber schön ist es doch heute, weil der Himmel zum ersten Mal nach dem langen Winter ganz hell ist und das Licht auf dem See gleißt und eine erste Ahnung von Grün auf dem Land liegt.
Naußen.
Sie hat sich das anders vorgestellt, damals. Sie hat von fernen Ländern und Städten geträumt. Von Vernissagen und Museen, die sie besuchen und von Begegnungen mit Künstlern. Und manchmal, wenn sie ganz verwegen war, phantasierte sie sogar davon, dass jemand aus dem Kunstverlag sie darum bitten würde, doch einmal ihre eigenen Werke zu zeigen, vielleicht sogar auszustellen oder ein besonders gelungenes Stillleben als Grußkarte zu drucken und zu verkaufen.
    Amalie hüpft um sie herum und singt. Singt, singt, singt. Trällert ihr neues Lied den ganzen Tag. Insgeheim hat Elise sich damals gefreut, dass ihr erstes Kind ein Mädchen war. Sie hat gedacht, die Erziehung wäre leichter bei einem Mädchen, denn als Kind hatte sie sich vor den wilden Buben immer gefürchtet. Sie hatte falsch gelegen, das weiß sie jetzt, weil sie inzwischen auch zwei Jungen hat. Vielleicht wird das nächste Kind ja auch wieder ein Knabe.
    »Großer Gott wir lie-hie-ben dich, Herz wir preisen deine Stärke.«
    Die Tochter klatscht in die Hände, als sie das Wasser erreicht haben, dreht sich und lacht und hüpft, ohne ihr Geträller zu unterbrechen. Es ist niedlich, natürlich. Mehr Gequäke als Gesang mit dem hohen Kinderstimmchen und sie kann den Text noch nicht richtig, obwohl Theodor ihn gestern Abend mit ihr geübt hat. Aber der Rhythmus stimmt. Immer. Nie vergisst sie eine Melodie, wenn sie sie einmal gehört hat. Ein musikalisches Kind, ganz wie der Vater. Wie sie sich immer freut, wenn der sie zu den Chorproben der Erwachsenen mitnimmt. Nur wenn sie brav war natürlich, was leider gar nicht die Regel ist, auch wenn sie bereits zur Schule geht, auch wenn sich alle redlich um sie bemühen.
    »Loben«, sagt Elise. »Es heißt loben und Herr. Nicht lieben und Herz. Großer Gott, wir loben dich, Herr wir preisen deine Stärke.«
    »Loben. Herr«, echot ihre Tochter und runzelt die Stirn. »Warum heißt das denn so?«
    »Na weil Gott immer gut ist. Weil er nie einen Fehler macht.«
    »Aber wir lieben ihn auch.«
    »Ja, natürlich, das tun wir. Aber deshalb musst du das Lied trotzdem richtig singen, wenn du später in den Chor willst.«
    Amalie nickt und einen Augenblick glaubt Elise, dass ihre Älteste sie verstanden hat. Aber dann fängt sie wieder an, nicht mit dem ›Großer Gott‹, sondern mit einem Phantasielied.
    »LobenLiebenLobenLiebenLobenLieben.«
    »Still, Mädchen,

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