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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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einmal gestanden, als Kind, und mich schrecklich gefürchtet. Ich trat näher, ungläubig, aber nein, es gab keinen Zweifel. Diese drastisch naive Malerei war ganz sicher einzig. Der Blick Jesu ging in die Ferne, seine Mundwinkel wiesen nach unten. Die Sünderlein sahen im Vergleich zu ihm kindlich aus. Einige drohten in Holzkähnen zu kentern. Andere mühten sich, aus rechteckigen Luken in den Himmel zu krabbeln – wie Ivo, Alex und ich früher auf unserem Dachboden in Köln. Doch Jesus war streng, auch das war akribisch dargestellt: Am linken Rand des Altarraums lotste Petrus die Erlösten in eine Backsteinkirche. Rechts jedoch klaffte das Maul eines Höllentiers und schlang die Verdammten hinunter ins Feuer.
    Ein Ausflug mit Mutter und Großmutter, nur wir drei, in unserem lindgrünen Familienpassat, über sommerliche Alleen. Ich war noch sehr klein, ich konnte noch nicht lesen, hatte keinerlei Zeitgefühl, ging nicht mal zur Schule. Irgendein Ausflug zu irgendeiner Kirche, dachte ich damals, dachte ich auch später, wenn ich mich an diese Fresken noch einmal erinnerte. Dabei war dieser Ausflug von Großmutter, Mutter und Enkelin durchaus etwas Besonderes gewesen, denn in der DDR überließ meine Mutter normalerweise meinem Vater das Steuer. Hatte ich damals gefragt, was die Fahrt zu bedeuten hatte? Vielleicht, doch wahrscheinlicher ist, dass ich mir nichts dabei dachte und diese Exkursion einfach hinnahm, eine Laune der Erwachsenen. Mich interessierten die Kornblumen und der Mohn, der Duft reifer Kornfelder, das Gesumm der Insekten – nicht der Friedhof und auch nicht das selbst im Hochsommer kalte Dunkel einer Kirche, in der man nicht rennen durfte, nicht herumklettern, nicht einmal laut reden.
    Was hatten sie hier gewollt, warum nahmen sie mich mit? Hatte ich mich tatsächlich nur vor dieser Wandmalerei gefürchtet? Ich trat in den Altarraum, hörte wie aus weiter Ferne den Widerhall meiner Schritte auf den roten Tonfliesen. Auch hier war ich schon einmal gewesen, an der Hand meiner Mutter.
Guck mal, das Paradies, Ricki, wie schön dieser Maler die Ranken und Blätter gemalt hat. Und da, die beiden Nackten, die lächeln, das sind Adam und Eva,
hatte sie gesagt. Aber ich hatte nicht gelächelt, ich war untröstlich gewesen, weinte und weinte.
    Ein roter Weihnachtsstern auf dem Altar. Eine Bibel. Ein schlichtes Kreuz. Eine Kerze. Unter dem grünblättrigen Paradies die Fenster aus milchigem Glas, das den Blick hinaus nicht erlaubte.
    Du bist nicht meine Tochter.
    Der Satz war plötzlich da, war in mir verschollen gewesen, genau wie die Erinnerung an meinen ersten Besuch in dieser Kirche. Aber nun ließ er sich nicht wieder verdrängen, so wie das Wissen um diese Angst, die ich hier einmal gefühlt hatte.
    Du bist nicht meine Tochter.
Ich stand still, schloss die Augen, versuchte dem Satz eine Stimme zu geben, ein Gesicht, einen Ort. Hatte ich ihn hier in Sellin gehört, in dieser Kirche, an jenem Sommertag? Und wenn ja, wer hatte ihn gesagt? Meine Mutter zu mir? Meine Großmutter zu meiner Mutter?
    Alles ist gut, Ricki, nun beruhige dich doch. Es gibt keinen Grund, so schrecklich zu weinen.
    Fremd hatten diese Worte geklungen. Zu hektisch, zu hoch, um mich zu beruhigen.
    Ich öffnete die Augen wieder, sah, dass Adam und Eva tatsächlich noch unwissend waren und lächelten. Wir mussten von Poserin aus hierher gefahren sein. Warum? Wann genau? Waren wir auch im Pfarrhaus gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern, auch der Rückweg war verschwommen, vermutlich sogar vergessen, eine Fahrt von vielen über holprige Pisten. Doch ich hatte in dieser Kirche geweint und mich entsetzlich gefürchtet. Und dann hatte ich was auch immer genau hier geschehen war irgendwo tief in mir vergraben.
    Piet, Wolle und Moni erwarteten mich draußen. Einträchtig standen sie vor der Kirchentür, ein denkwürdiges Empfangskomitee: die kugelrund-bunte Beauty-Oase-Chefin, der langhaarige Wolle in Blaumann und Parka, Piet mit einer absurd hässlichen neongrünen Pudelmütze auf der Glatze und von zahlreichen Piercings zerlöcherten, rot gefrorenen Ohren. Ich speicherte Monis Handynummer und gab ihr meine. Sie versprach, sich um das Türschloss zu kümmern, und ermunterte mich, sie jederzeit anzurufen, wenn sie noch etwas tun könne. Sie behauptete nochmals, dass meine Mutter in Sellin geboren worden sei und das Haus vor zwei Jahren gekauft habe.
    Wir sprachen nicht viel, als wir wieder im Auto saßen. Im Wageninneren war es nach der langen

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