Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
hätte ich getan, wenn sie mir gesagt hätte, dass sie das nicht mehr aushielt? Sie hatte das nie auch nur angedeutet und mir auf diese Weise eine Antwort erspart. Vielleicht wollte sie meine Antwort auch gar nicht hören, brauchte die Illusion, dass ihre Einsamkeit selbst gewählt war.
»Sie ist tot, deshalb bin ich hier.« Meine Stimme klang rau. »Sie ist auf der Rückfahrt nach Berlin verunglückt.«
»Ein Autounfall? Mein Gott! Genau wie Ihr Bruder. Das ist ja furchtbar.«
Neben der Pfarrhaustür hing ein handgroßer Messingschlüssel mit grob gezinktem Bart. Ich nahm ihn von seinem Haken und betrachtete ihn. Dachte an den Schlüsselbund, den mir die Polizei ausgehändigt hatte, an den Safe, der nicht zu meiner Mutter passte, an den dritten Schlüssel, zu dem es keine Tür gab.
»Gehört dieser Schlüssel zur Kirche?«, fragte ich.
»Ja, aber Ihre Mutter war dort eigentlich nie …«
Ich lief los, an ihr vorbei, weg von ihren Worten.
»Rixa, verdammt, wir müssen los«, mahnte Wolle.
»Gleich, versprochen.«
»Es ist scheißkalt und es fängt an zu schneien!«
»Ein paar Minuten. Bitte!« Ich konnte nicht erklären, warum das so wichtig für mich war, aber ich wollte unbedingt wissen, was sich in dieser Kirche verbarg.
Wieder der Schnee unter meinen Sohlen. Wieder das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Das Geräusch der zerberstenden Weinflasche klang mir noch immer in den Ohren. Etwas war mit ihr zerbrochen, etwas in mir, von dessen Existenz ich bislang nicht einmal etwas gewusst hatte.
War meine Mutter genau hier entlanggelaufen, folgte ich ihren Spuren? Für eine Pfarrerstochter ging sie erstaunlich selten zur Kirche. Mit den Großeltern natürlich, wenn wir in der DDR waren. Jeden Sonntag. Und nie unternahmen wir mit meinen Großeltern einen Ausflug, ohne am Ziel die Kirche zu besichtigen. Selbst im verschlafensten Dorf ruhte mein Großvater nicht eher, als bis er jemanden fand, der sie für uns aufschloss. Doch sobald wir wieder in Köln waren, beschränkten sich die Kirchenbesuche meiner Mutter auf Ostern und Weihnachten und Gelegenheiten wie Tauf- und Beerdigungsgottesdienste, zu denen wir eingeladen wurden, und unsere Konfirmationen.
»Ich bin als Kind oft genug in der Kirche gewesen, Ricki, das reicht für den Rest meines Lebens. Aber das müssen wir Oma und Opa ja nicht verraten.«
»Und was ist mit Gott?«
»Ach, der sieht mich trotzdem. Darum musst du dich nicht sorgen.«
»Die Kirche ist alt, aus dem 13. Jahrhundert!«, rief Moni hinter mir her. »Ihr Opa hat sich dafür eingesetzt, dass die Wandmalereien restauriert wurden. Aber als das endlich gemacht wurde, war er schon gestorben.«
Vom Pfarrhaus bis zur Kirche waren es etwa 200 Meter. Das Eingangstor zum Kirchhof war noch weiter entfernt, doch auf halbem Weg dorthin entdeckte ich einen Durchbruch in der steinernen Umfriedung – vielleicht durch Vandalismus, vielleicht durch Verfall, das war wegen der Schneelast nicht eindeutig zu entscheiden. Es war schwer, einen Weg oder Trampelpfad zu finden, ich konnte nur hoffen, dass ich nicht quer über Grabstellen trampelte. Wurden hier heute noch Menschen beerdigt? Viele der Grabmale wirkten fast archaisch, windschiefe Steinkreuze mit kaum zu entziffernden Namen.
Der Haupteingang zur Kirche lag im Turmtrakt, mit Blickrichtung zum Dorf. Von Raureif verkrusteter Efeu umrankte das Portal und verlieh ihm eine Märchenschlossanmutung. Die Kirchentür schwang auf, ohne zu quietschen, was das Gefühl von Unwirklichkeit noch verstärkte. Dunkelheit empfing mich drinnen, eine dickflüssige Stille, greifbar fast, wie ein lebendiges Wesen. Ich tastete mich vorwärts, vorbei an dem Seil, das die Glocken schlug, und dem Aufstieg zum Turm, unter dem Gebälk der Orgelempore hindurch. Es roch nach Stein und uraltem Holz. Das Licht, das durch die schlichten Bleiglasfenster ins Hauptschiff fiel, reichte gerade noch aus, um mich die Wandmalereien erkennen zu lassen: die blondlockigen, rot und grün gewandeten Engel mit den Rauscheflügeln und Blasinstrumenten im Gewölbe über den Kirchenbänken. Den Jesus mit Hippiefrisur auf dem Regenbogen über dem Altarraum. Die Wundmale in seinen zum Himmel erhobenen Handflächen. Die ihn anbetenden Jünger. Und zu seinen Füßen – sehr viel kleiner gemalt – ein wahres Gewimmel nackter, flehender Sünder.
Das Jüngste Gericht. Ich stand starr, unfähig, den Blick von den Fresken zu lösen. Ich kannte sie, kannte sie gut. Jedes Detail. Ich hatte hier schon
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