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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Pause genauso eisig wie draußen. Der Himmel senkte sich tiefer und erstickte den Tag, der Schnee fiel jetzt dichter. Der Moskwitsch sprang sofort an, das war die gute Nachricht, doch die Luft, die er uns ins Gesicht blies, blieb kalt, und der letzte Rest Kaffee in unserer Thermoskanne war lauwarm. Wir tranken ihn dennoch und zerbissen Pfefferminzdrops. Es half, jedenfalls ein bisschen. Immerhin klapperten wir nicht mehr mit den Zähnen.
    In Güstrow hielt Wolle an und wir rutschten zu Fuß durch gespenstisch leere Gassen zum Marktplatz, wo uns ein geöffnetes Restaurant mecklenburgische und internationale Spezialitäten versprach. Wir bestellten Grog und die Tagessuppe und Lasagne und setzten uns an den Tisch vor der Heizung. Windböen trieben den Schnee gegen die Fenster, ließen uns den Marktplatz nur schemenhaft erahnen. Er war für Autos gesperrt und sah im Großen und Ganzen wahrscheinlich noch so aus wie vor hundert oder zweihundert Jahren: geduckte Häuser im Schulterschluss, die Backsteinkirche in ihrer Mitte so gewaltig, als habe ihr Erbauer den Sinn für Proportionen verloren.
    Ein Mann mit Hut lief draußen vorbei, langsam wie in Zeitlupe, den Kopf gesenkt, brachte mir Schuberts
Winterreise
zurück. Ich war so naiv gewesen mit dreizehn, so eifrig, ich fand die lyrische Traurigkeit der Musik einfach nur schön. Doch vielleicht hatten meine Großeltern und meine Mutter bei jenem Weihnachtsfest in Poserin gar nicht meine verpatzte Darbietung missbilligt. Vielleicht ging es einzig um diese Musik, die etwas in ihnen anrührte, das schlichtweg ein Tabu war?
Muss selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit
. Heimatlosigkeit. Vertriebensein. Darum ging es in diesem Lied. Die Verlorenheit des betrogenen, einsamen Wanderers im Schnee, für den es keinen Trost, ja nicht einmal einen Unterschlupf gab.
Ein urdeutsches Kriegstrauma, wenn man so wollte. Nicht umsonst wurde ja der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau 1948 mit seiner
Winterreise
-Interpretation quasi über Nacht zum Star. Ein pausbäckiges Riesenbaby sei er da noch gewesen, erinnerte sich eine Kollegin später. Ein ehemaliger Wehrmachtssoldat und Student, der jedoch mit einer Schönheit und Inbrunst sang, dass nach seinem ersten Rundfunkauftritt bei der RIAS alle wie zum Beten in seine Konzerte pilgerten. Hörte man den Krieg in seinem Gesang? Den immensen Verlust, das Grauen, den Tod? Vielleicht schwang all das mit, ja, wahrscheinlich sogar. Vielleicht hatte ich in aller Unschuld an jenem Weihnachtstag den Krieg ins Wohnzimmer meiner Großeltern geholt, die Jahre vor der Geburt meiner Mutter – was auch immer damals geschehen war.
    Ich ging zur Toilette und wusch mir die Hände. Meine Augen waren rot und verschwollen vom Weinen. Mein Gesicht sah gehäutet aus. Nackt. Beinahe kindlich. Es war meins und doch nicht. Es erschreckte mich maßlos. Ich konnte nicht zurück auf die Marina, wurde mir mit einem Schlag klar. Konnte nicht, wollte nicht, jedenfalls nicht, bevor ich wusste, was es mit Sellin auf sich hatte, vielleicht aber auch nie mehr. Meine Hände waren noch immer kalt. Ich legte sie über meine Augen, stand ein paar Atemzüge lang im Dunkel, wie ein kleines Mädchen, das die Augen schließt, damit man es nicht findet. Ich hatte Angst, Angst vor dem, was noch kommen würde. Ich war so lange so überzeugt von meinem Leben auf der Marina gewesen. Ich hatte es für stabil gehalten, richtig, nur schwer zu erschüttern. Ein Irrtum war das gewesen, Wunschdenken, eine Illusion. Ich sehnte mich unendlich danach, einfach einschlafen zu können und wenigstens für ein paar Stunden nichts mehr zu denken.
    Im Restaurant hatte die Bedienung inzwischen unsere Suppen serviert. Wir streckten die Beine aus und schälten uns einer nach dem anderen aus unseren Jacken. Löffelten unsere Suppen. Tranken unseren Grog.
    »Und in deiner Familie hat wirklich nie irgendjemand dieses Kaff erwähnt?«
    Wolles forschende Augen. Unsere glühenden Wangen. Piet, dessen Ellbogen meinen berührte, wenn wir zu unseren Tassen griffen, der mich aber immer noch nicht richtig ansah. Wie lange schon nicht? Jahre, zwölf Jahre, seit Ivos Tod. Und doch waren er und Wolle für mich da gewesen, waren das auch jetzt, auf ihre wortkarge, ruppige, fast beiläufige Art. Wie Alex und Ivo früher, dachte ich plötzlich.
    Wolle sah nicht weg, er wartete einfach. Ivo hatte mich manchmal genauso gemustert, wenn er mich dazu bringen wollte, ihm ein Geheimnis zu verraten. Ich sehe was, was du nicht

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