Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Elise packt sie bei den Schultern, das Mädchen heult auf. Dieser riesige Mund, die verkniffenen Augen. Still soll sie sein, endlich still! Still, still, still!
Die Tochter brüllt los und tritt um sich, der Eimer kippt um, eisiges Wasser schwappt Elise über den Rock.
Sie festhalten und schütteln, schütteln, und wenn sie dann immer noch keine Ruhe gibt, sie unter Wasser drücken, den schreienden Mund, den sich windenden Körper, Fleisch von ihrem Fleische, einfach festhalten und drücken, lange, lange, so lange, bis endlich Frieden ist.
Elise erstarrt, ihr Herz hämmert und rast. Wahnsinnig, sie muss wahnsinnig sein! Sie stellt sich wirklich und wahrhaftig vor, ihre eigene Tochter zu töten.
Sie lässt sie los, so abrupt, dass das Mädchen vornüber kippt. Jetzt fließen Tränen und die Händchen krabbeln hektisch durchs Gras, um die Tücher zu retten.
Wieder fasst Elise sie an den Schultern, sanfter jetzt, nimmt ihr die Wäsche weg.
»Das wollte ich nicht, Mama!«
»Ach Mädchen, Mädchen, du bist doch schon sechs, du musst besser gehorchen.« Elise zieht sie an sich, nimmt die krebsrot gefrorenen Fingerchen einen Moment lang zwischen ihre eigenen und reibt sie.
Männerarbeit ist das eigentlich, diese große Wäsche. Und noch viel mehr wäre es Männerarbeit, den schwer beladenen Wäschewagen durch den Morast wieder hinauf zum Haus zu ziehen. Theodor ist stark, er würde das sicher leicht schaffen, aber das kann sie unmöglich von ihm verlangen. Er hilft ja schon viel, mit dem Holz, mit dem Schlachten, doch er muss seine Predigt schreiben und wie würde das aussehen? Der Pfarrer, der sich mit der Schmutzwäsche plagt. Nein, das geht auf keinen Fall, das wäre zu peinlich.
Wie kindlich Amalie riecht, wie unschuldig. Ihr eigen Fleisch und Blut. Die Tochter, die doch so ganz anders aussieht als sie selbst. Mit goldenem Haar und hellen Augen. Nie, niemals will sie sie verlieren. Elise gibt ihr einen Stubs Richtung Pfarrhaus.
»Komm, lauf jetzt nach oben und pass auf deine Brüder auf. Und schick mir Greta.«
Der nasse Rock klebt an ihrem Bein und macht es taub, und die Finger kann sie schon kaum noch bewegen. Elise spült das nächste Laken. Und das nächste. Der Schmerz ist gerecht, ist ihre Strafe.
Aus dem Garten erklingt nun das Jauchzen der Buben. Die Große scheucht sie. Sie spielen Fangen unter den Kirschbäumen. Doch, das ist schön, wenn die Kinder so miteinander spielen. Als Kind war sie immer allein, hat sich nach Spielkameraden gesehnt. Und wenn sie von ihrer Hochzeit träumte, sah sie sich auch nicht allein mit Theodor und den Schwiegereltern, sondern in einer großen Gesellschaft in einem weißen Brautkleid unter blühenden Kirschbäumen. Ein ganz lauer Windhauch würde Blütenblätter auf sie und ihren Bräutigam streuen, hat sie sich ausgemalt: wie Konfetti, nein, wie Schnee, der nicht wehtut.
»Die Suppe ist fertig. Sie brauchen mich hier?«
Greta ist da, na endlich. Zum Glück hat die Hausmagd schließlich doch noch gelernt, die Anweisungen zu befolgen.
Elise stemmt sich hoch und deutet auf den Wagen. Die Magd nickt und packt die Deichsel. Selbst zu zweit ist es Schwerstarbeit, die nasse Wäsche hinauf in den Pfarrgarten zu befördern, und der Schlamm spritzt von den Rädern auf Elises Rocksaum. Ein Kreislauf ist das Leben, ein ewiger Kreislauf, kaum ist etwas sauber, wird es schon wieder schmutzig.
Aber nachts ist es doch gut, wenn sie neben Theodor liegt. In seinem Arm, in seiner Wärme.
»Frau Pfarrer, Frau Retzlaff, halli-hallo! Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen?«
Oh Gott, auch das noch. Die Beckers sind da. Unangemeldeter Besuch. Zwei weitere Esser.
»Schnell, Greta, lauf, hol noch ein paar Kartoffeln, sobald du mit den Laken fertig bist!«
Elise zwingt sich zu einem Lächeln und reicht den Beckers die Hand.
»Wie schön, Sie zu sehen. Theodor wird sich freuen! Sie speisen doch hoffentlich gleich mit uns gemeinsam?«
Sie muss sich umziehen, dringend. So nass und beschmutzt macht sie keinen guten Eindruck. Und das ist doch wichtig, so wichtig, gerade bei den Beckers.
Warum guckt Amalie nun schon wieder so schuldbewusst? Warum steht sie wie angewurzelt, was ist jetzt wieder los? Elise folgt ihrem Blick, sieht die schmutzigen Fußspuren auf dem frisch gebleichten Laken. Die Kinder sind einfach drüber gerannt, haben in ihrem Spiel alles andere vergessen.
Hitze steigt ihr ins Gesicht. Scham. Und nun, ausgerechnet, tritt auch noch Theodor auf die Veranda.
Das Pfarrhaus
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