Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ist eine Stadt auf dem Berge, es hat durchsichtige Wände,
steht in dem Leitbüchlein, aus dem ihre Schwiegermutter so gern zitiert. Wie wahr das ist, wie bitter wahr. Und leider kennen nicht nur die Beckers, sondern selbst ungebildete Menschen wie Greta die christliche Lehre gut genug, um beurteilen zu können, wie eine christliche Frau und Mutter sein soll – und wann sie versagt.
Sie rafft das besudelte Laken an sich, packt ihre Tochter am Arm und zerrt sie an Theodor vorbei ins Pfarrhaus. Sie hält sich sehr aufrecht dabei. Sie schlägt erst zu, als sie allein ist.
»Aufpassen solltest du, aufpassen! Die gute Wäsche! Die ganze Arbeit.«
Sie schlägt noch einmal zu, hart, bevor sie das Mädchen ins Konfirmandenzimmer sperrt.
»Warte nur, warte. Warte auf deinen Vater!«
11. Rixa
Drei Tage waren vergangen, ich wusste nicht wie. Drei Tage, angefüllt mit Telefonaten, Behördengängen, Suchen und Fragen, die zu immer weiteren Fragen führten. Die Kälte war geblieben, aber es schneite nicht mehr. Der Schnee auf den Dächern und Bürgersteigen hatte seine Strahlkraft verloren, zumindest in Berlin. Graues Eis. Harsch. Dreck, der in seinen Poren nistete. Nachts fand ich keine Ruhe und wanderte stundenlang durch die Wohnung meiner Mutter. Die Vormittage verschlief ich, traumlos, bewusstlos, ohne mich zu erholen. Irgendwann gegen Mittag taumelte ich dann wieder hoch und setzte Kaffee auf, fütterte Othello und versuchte, mich zurechtzufinden: in einem Leben ohne Crew und Rundumkantinenversorgung und abendliche Auftritte. In dieser Stadt, die einmal mein Zuhause gewesen war. In der Wohnung meiner Mutter und in einem Netz aus Erinnerungen, die mir mehr und mehr vorkamen wie Lügen.
Nichts ist so, wie es scheint. Eine Binsenweisheit, nur hatte sie für mich jegliche Leichtigkeit verloren und schmeckte bitter, ließ mich die Bedeutung von Wahrheit neu definieren. Ich kaufte mir einen Surfstick für meinen Laptop, damit ich im Internet recherchieren konnte. Ich rief Gemeindeverwaltungen an. Kirchenämter. Pfarrer. Ich kämpfte mich durch Fotoalben und Adressbücher und Briefe. Die Kontoauszüge meiner Mutter bezeugten, dass sie in der Tat Strom-, Gas- und Wasserkosten sowie die Grundbesitzabgaben für das Selliner Pfarrhaus bezahlt hatte. Ihr Konto war ausgeglichen, die einzige Einnahmequelle waren die Unterhaltszahlungen meines Vaters. Ein Sparbuch, Aktien oder ein Tresorfach besaß sie nicht, jedenfalls nicht bei ihrer Hausbank. Ich fand in ihren Unterlagen auch keinen Kaufvertrag zu dem Haus, keinen Grundbuchauszug, kein heimlich gehortetes Vermögen und kein Testament. Einen Kredit hatte sie niemals aufgenommen, so viel schien sicher. Wie sie das Haus finanziert und was es gekostet hatte, konnte man mir bei der Bank nicht sagen. Es gab auch keine andere Bank in der Nähe ihrer Wohnung, bei der sie Kundin gewesen war. Zu welchem Schließfach oder Safe der Tresorschlüssel an ihrem Schlüsselbund passte war ein weiteres Rätsel, eines von vielen. Ich stellte einen Antrag auf Akteneinsicht beim Grundbuchamt, wurde aber vertröstet.
Der Tod ist für die, die zurückbleiben, vor allem ein bürokratischer Akt, begann ich zu begreifen. Wer hatte sich nach Ivos Tod um all die Behördengänge gekümmert? Mein Vater vielleicht, oder Alex. Ich versuchte, den Überblick zu behalten und erstellte To-do-Listen. Ich schrie meinen Ärger darüber, dass er mich mit all dem allein ließ, auf Alex’ Anrufbeantworter. Ich schob die To-do-Listen wieder beiseite und tippte die Lebensdaten meiner Großeltern in eine Tabelle. Geboren 1900 und 1902. Die Hochzeit in Plau 1923 auf dem Höhepunkt der deutschen Inflation. Die erste Pfarrstelle in Poserin. Die Geburt des ersten Kindes im Herbst 1925: Richard, mein Patenonkel, benannt nach dem geliebten, im Ersten Weltkrieg gefallenen ältesten Bruder meines Großvaters, der auch mein Namenspate war. Weitere Geburten folgten in kurzen Abständen, meine Onkel und Tanten, geboren in Poserin und in Klütz, wo meine Großeltern von 1931 bis 1942 gelebt hatten.
Und danach kam das große Fragezeichen: Sellin. Eine Zeitspanne von 1942 bis 1950. Acht Jahre Familienleben, von denen alle immer so getan hatten, als hätten sie nicht in Sellin, sondern in Poserin stattgefunden. Aber das war eine Lüge gewesen, das konnte ich nun beweisen.
Mein Großvater war Pfarrer der Gemeinde Sellin gewesen, acht Jahre lang, bis 1950.
Lebensstationen. Orte, die nach heutigen Maßstäben dicht beieinander liegen,
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