Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Zwanziger-, Dreißiger-, Vierzigerjahren, und wenn, konzentrierte man sich auf das Wesentliche, nicht Häuser oder Landschaften, sondern Menschen und höchstens mal eine Kirche. Das erste Foto war das Hochzeitsbild meiner Großeltern. Jung und todernst blickten sie in die Kamera, zwei angesichts dieses überwältigenden Ereignisses schockgefrorene Kinder, die nun im Rekordtempo zu Familienoberhäuptern heranreifen mussten. Sie waren so jung, sahen makellos aus. Unvorstellbar, dass mein Großvater bereits als Soldat auf einem Kriegsschlachtfeld überlebt hatte. Nur überlebt? Mit Sicherheit nicht. Er musste auch selbst geschossen haben. Du sollst nicht töten. Das fünfte Gebot. Wie war er damit klargekommen? War er deshalb Pfarrer geworden – aus Sühne? Oder war das schon immer sein Wunsch gewesen, oder der seines Vaters?
Ich schlug die nächste Seite auf. 1925: Mein Onkel Richard als Täufling, die Lippen zu einem stummen Protestschrei verzogen, den Rand des Fotos umrahmte eine Mausezähnchenkante. 1927: Mein immer noch sehr jung aussehender Großvater im Talar vor der Backsteinfassade einer Kirche – ich wusste nicht, welcher. 1929: Meine Großmutter mit heller Schürze, zu ihren Füßen stehen drei blonde, barfüßige Kleinkinder in Spielschürzen stramm, im Hintergrund Schilf und ein Zipfel Wasser, wahrscheinlich der See von Poserin, vielleicht auch ein anderer.
Sie hatte überhaupt keinen Schimmer, auf was sie sich einließ, als sie meinem Vater das Ja-Wort gab, Ricki. Sie war völlig naiv, sie hat mir allen Ernstes einmal gestanden, dass sie erst bei der dritten Geburt wirklich verstand, wodurch genau sie überhaupt schwanger geworden war. Ihre Hebamme hatte ihr das erklärt, sonst sprach ja damals niemand über solche Dinge. Und ihr Vater war tot, ihre Mutter weit weg in Leipzig. Aber sie hat nie etwas bereut, sie hat meinen Vater geliebt, immer und immer, sie war ihm regelrecht hörig. Für ihn hat sie so vieles auf sich genommen, selbst das Landleben, dabei war sie als Stadtkind mit all der Schufterei und den vielen Kindern eigentlich heillos überfordert.
Ich blätterte weiter. Es gab Lücken in den alten Alben, mehr Lücken als früher – oder bildete ich mir das ein?
Der Krieg, Ricki, die Russen. Die haben bei uns doch wie die Tiere gehaust, haben alles zerstört und durcheinandergeworfen und geklaut, was sie wollten. Es ist ein Wunder, dass überhaupt noch so viele Fotos existieren. Auf Knien ist meine Mutter durchs Haus gerutscht, als die Russen schließlich weg waren, um alles wieder zusammenzusuchen, mühselig hat sie die Alben dann wieder geklebt, oft und oft hat sie mir das erzählt.
Ich schlug die nächste Seite auf. Noch einmal mein Großvater im Talar, gereifter nun, weniger jungenhaft. Fünf Männer in SA-Uniformen flankieren ihn, aber er überragt sie alle und wirkt mit seinem akkuraten Seitenscheitel und dem kantigen Kinn wie der Prototyp eines arischen Recken. »1931 mit Wilhelm Petermann (3. v. r.) und Kameraden«, lautete die Bildunterschrift. Ich trug das Bild in den Lichtkegel der Stehlampe. Es war nicht sehr groß, die Gesichtszüge der Männer waren nicht besonders deutlich zu erkennen, Petermanns Hand ruhte auf dem Arm meines Großvaters. Freundschaftlich? Jovial? Besitzergreifend? Bedrohlich?
Mein Großvater hatte nie über den Nationalsozialismus gesprochen, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Niemand in unserer Familie tat das, wurde mir zum ersten Mal bewusst. Die Misswirtschaft der Kommunisten, das geteilte Deutschland und die Willkür der DDR-Grenzer, die jedes unserer Familientreffen zu einem Abenteuer machte, waren die Themen, die die Retzlaffs erörterten, wenn sie beisammen saßen. Und wenn es doch um die Zeit vor 1945 ging, sprachen sie vom Krieg und von seinem grausamen Ende. Von gefallenen Soldaten, von den Bombenangriffen und vor allem vom Einmarsch der Roten Armee. Selbst die tote ostpreußische Flüchtlingsfrau, aus deren Pelzmantel meine Großmutter einen Schlafsack für ihre jüngste, neugeborene Tochter Dorothea genäht hatte, gab es nur nachts, in den geflüsterten Erinnerungsfetzen meiner Mutter.
Kameraden – mein Großvater bezeichnete Angehörige der SA als Kameraden. Oder bezog er selbst sich nicht in diesen Männerbund ein, lautete die korrekte Lesart der Bildunterschrift in Wirklichkeit »Ich und Wilhelm Petermann und dessen Kameraden«? Das Hakenkreuz an der Tür des Selliner Pfarrhauses kam mir in den Sinn. Eine Schmiererei aus der Gegenwart
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