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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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doch damals waren das wohl verschiedene Welten. Poserin, Klütz, Sellin, Poserin. Warum waren sie dorthin zurückgekehrt? Verbanden sie Glück damit, die Erinnerung an ihre einst junge Liebe? Sie wollten immer dort bleiben, das wusste ich noch. Es dauerte Jahre, bis sie einsahen, dass meine Großmutter zu gebrechlich war, den Haushalt noch selbst zu führen. Erst als es gar nicht mehr ging, zogen sie ein letztes Mal um: nach Zietenhagen nahe der Ostsee, ins Haus ihres Sohnes Markus, der dort ebenfalls Pfarrer war. 1982, knapp ein Jahr nach diesem letzten Umzug, starb mein Großvater, drei Jahre später meine Großmutter. Die Öffnung der Grenze, von der sie so lange geträumt hatten, erlebten sie nicht mehr.
    Acht Jahre Familienleben, über die nie jemand gesprochen hatte. Acht Jahre, über die auch jetzt niemand reden wollte, nach dem Tod meiner Mutter, dieser jüngsten Retzlaff-Tochter, die in dieser verschwiegenen Zeitspanne zur Welt gekommen war. Ich blickte vom Laptop auf. Meine Schultern taten weh, meine Augen brannten. Draußen wurde es schon wieder dunkel. Ich ging zum Fenster und presste die Stirn ans Glas. Hörte den Stimmen zu, die in meinem Kopf in einer Endlosschleife meine Telefonate mit diversen Retzlaff-Geschwistern abspulten.
    Gut, also gut, hatte Onkel Richard nach zähem Ringen zugegeben. Man habe ein paar Jahre lang in Sellin gelebt, das sei richtig. Und ja, das hätte er mir wohl direkt sagen müssen, als ich ihn danach fragte. Doch andererseits habe er sich beim besten Willen nicht vorstellen können, dass meine Mutter dorthin unterwegs gewesen sei oder was sie dort wollte. Es sei ihm noch immer unbegreiflich. Sie sei doch viel zu jung, um sich an die Selliner Jahre überhaupt noch zu erinnern. 1950 war sie schon fünf, hatte ich ihm widersprochen. Und sie war sogar als junge Frau noch einmal dort gewesen, mit Oma und mir, das weiß ich genau. Er seufzte. Schwieg. Behauptete, das müsse ein Irrtum sein, Zufall, jedenfalls nicht von Bedeutung. Ich widersprach ihm erneut. Ich schrie schließlich. Er aber schwieg verbissen weiter.
    Es war keine gute Zeit dort, Ricarda, hatte meine Tante Elisabeth geflüstert. Die Vierzigerjahre, der Krieg, der Einmarsch der Russen. Deine Großeltern waren gottfroh, als das alles hinter ihnen lag. Wir alle waren das, als wir wieder nach Poserin zogen. Wir wollten neu anfangen und den Krieg vergessen. Das ist doch menschlich. Das musst du verstehen. Und meine Mutter?, fragte ich. Was war mit ihr? Doch die Antwort blieb vage. Dorothea hat sich mit Sellin wohl in etwas verrannt, behauptete Elisabeth. Sie war zu viel allein, nach Ivos Tod. Alex und du, ihr wart ja immer weg und dein Vater in Köln –.
    Genug. Genug! Ich wandte mich vom Fenster ab und schaltete das Licht ein – zu abrupt für den Kater. Er fauchte mich an und floh in den Flur. Ich sah mich um, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte. Das Wohnzimmer sah wüst aus, ein Albtraum nach den Maßstäben meiner Mutter. Tisch, Sessel und Fußboden übersät von Papieren, Briefen, Fotos. Von ihrem Ehrenplatz über der Couch aus schienen mich die Ölkonterfeis meiner Großeltern zu beobachten.
    »Was?«, sagte ich laut. »Was soll ich jetzt machen?«
    Keine Antwort, natürlich nicht. Ich kniete mich auf den Teppich, griff nach einem der Fotoalben, schlug es willkürlich auf. 1978: Meine noch sehr jugendliche Mutter in ihrem hellblauen Leinenkleid vor rosa Stockrosen, die sie überragen. 1975: Mein Vater und mein Großvater in Sonntagsanzügen auf dem Weg zur Kirche. 1983: Meine Großmutter sitzt auf unserer Terrasse in Köln und schält Spargel. Elise Retzlaff, geborene Bundschuh. Ihr Haar war schon schütter, doch ihre Gesichtszüge waren trotz aller Falten noch immer schön. Ein Jahr zuvor war ihr geliebter Theodor gestorben. Die vielen Geburten hatten ihr den Rücken gekrümmt, die viele Arbeit die Finger. Und doch hielt sie es nicht aus, untätig zu sein, daran konnte ich mich noch genau erinnern. Hauchdünne Schalenstreifen säbelte sie an jenem Vormittag mühsam von den Stangen auf das Handtuch in ihren Schoß. Und sie bestand darauf, dass meine Mutter die Schalen noch auskochte, für eine Suppe.
    Etwas ist da und doch nicht da. Ich legte das Album beiseite, schlug stattdessen das allererste der Familie Retzlaff auf, das meine Mutter geerbt hatte. Ein Buch im Querformat, etwa zwei Handbreiten groß, der Einband aus dickem, brüchigem, dunkelbraunem Leder. Man hatte nicht viel fotografiert in den

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