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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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– aber wie stand es mit der Vergangenheit? Ich blätterte weiter, stieß auf weitere Lücken und Kinderporträts, blieb bei einem Foto aus dem Jahr 1946 hängen. Mager sahen meine Großeltern darauf aus. Verhärmt. Der Krieg schrie ihnen überdeutlich aus den Gesichtern. Aber das war es nicht, was mich erschreckte. Es war vielmehr das Lächeln, das meine Großmutter dennoch lächelte, und die tiefen Furchen neben dem Mund meines Großvaters, seine angestrengt hochgezogenen Brauen. Er hatte ebenfalls versucht zu lächeln – und es nicht geschafft. Der Verlust war zu groß, die Hoffnungslosigkeit. Sein Gesicht zeugte von unermesslicher Trauer.
    Vielleicht drehte ich langsam durch und begann, Gespenster zu sehen. Ich blickte auf zu den beiden Gemäldeporträts über dem Sofa, die nichts von solchen Abgründen erahnen ließen. Ich dachte an den Großvater, der mir im Winterwald Tierspuren gezeigt hatte, und daran, wie er in den letzten Kriegsjahren im Schnee gestanden hatte und Selbstmörder segnete, weil er erkannt hatte, dass es schlimmere Sünden gab, als sich selbst zu richten. Das musste auf dem Friedhof von Sellin gewesen sein, über den ich vor ein paar Tagen gelaufen war, nicht in Poserin, wie ich immer gedacht hatte. Und in der Kirche in seinem Rücken verschlang ein Höllentier die Verdammten.
    Acht verschwiegene Jahre. Ein verschwiegener Ort. Abgelegen, weit entfernt von Berlin, alle Neuerungen brauchten sicher lange, um bis dorthin vorzudringen. Doch Hitler und seine Schergen waren gründlich gewesen. Es war schlicht unmöglich, dass die Auswüchse ihres Terrors vor Sellin und dem Pfarrhaus der Familie Retzlaff haltgemacht hätten. Ich suchte nach dem SA-Kameradschaftsfoto, studierte es erneut. Was war aus diesem Wilhelm Petermann geworden? War er im Leben meiner Großeltern tatsächlich wichtig gewesen, und wenn ja, auf welche Weise? Es konnte doch wohl kein Zufall sein, dass dieses Foto im Album klebte.
    Unsere Nachbarsfamilie ist ins Wasser gegangen, als die Russen kamen, Ricki. Und der Organist meines Vaters hat seine Frau und seine Töchter erschossen, dann den Hund und im letzten Moment, als die Soldaten schon durch seine Haustür brachen, auch sich selbst. All meine älteren Geschwister und meine Eltern hatten bei Kriegsende die meisten ihrer Freunde und Schulkameraden verloren. Ein echtes Wunder ist das, dass wir Retzlaffs noch leben.
    Leben. Sterben. Im Krieg ist der Tod nicht mehr individuell. Einzelschicksale verschwinden in der überwältigenden Masse – und doch bleibt jeder Tote für die Hinterbliebenen, die um ihn trauern, einzig. Hatten meine Großeltern auch jüdische Freunde verloren? Politisch Verfolgte? Hatten sie solche Freunde überhaupt oder gehörten sie zu denen, die sich wegduckten oder gar mit den Nationalsozialisten paktierten? War Schuld der eigentliche Grund für ihr Schweigen?
    Mein Magen knurrte, unbeeindruckt von der Schwere meiner Gedanken. Ich hatte an diesem Tag außer einem Brötchen noch nichts gegessen. Ich ging in die Küche und setzte einen Topf Wasser auf. Farfalle mit Pesto,
Junggesellenfutter,
hörte ich meine Mutter sagen. Ich gab Salz und ein paar Tropfen Olivenöl ins Wasser. Ich hatte vergessen, Parmesankäse zu kaufen, doch es würde auch so gehen. So viele Sorten Speiseöl, so viele verschiedene Gläser mit Fertignudelsaucen von Herstellern aus aller Herren Länder im Supermarkt. Ich war überfordert gewesen, war das Einkaufen nicht mehr gewöhnt, hatte nach dem zweiten Anlauf, Zutaten, Mengen und Preis zu vergleichen, einfach ein Glas in den Einkaufskorb gelegt, dessen Design mir gefiel, nur um ein paar Regale weiter vor einem noch größeren Sortiment an Olivenölen erneut ins Grübeln zu geraten. Ich dachte an meine Großmutter und an die unzähligen Zentner Kartoffeln, die sie im Laufe ihres Lebens geschält haben musste. Es gab keine Fertiggerichte in ihrem Leben, keinen Supermarkt, wahrscheinlich nicht einmal Nudeln.
    Othello schlich näher und musterte mich. Langsam. Geduckt. Immer noch misstrauisch und wohl auch verwirrt. Die Frau, die ihn gerettet hatte, war eines Tages wieder verschwunden. Stattdessen war ich plötzlich hier in ihrer Wohnung, und war doch nicht sie. Aber auch ich gab ihm sein Futter, ja, ich schlief sogar in ihrem Bett. Vielleicht roch ich auch wie sie, das wusste ich nicht und würde es nie mehr überprüfen können. Maiglöckchenparfum – zu süßlich für meinen Geschmack. Und dennoch sog ich diesen Duft beim Einschlafen tief

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