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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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in die Lungen.
    Etwas ist da und doch nicht da. Meine Mutter war für uns Kinder dagewesen und doch nicht da. Sie versorgte uns Kinder gut, ohne Frage, aber nur mit Ivo hatte sie wirklich unbeschwert gewirkt, und unter all ihrer Tatkraft, die sie und uns durch die Tage katapultierte, schien sich immer noch etwas anderes zu verbergen, das für uns verboten war, unerreichbar, vermintes Gelände. Oder stimmte das gar nicht? Ich gab Futter in Othellos Napf und setzte mich an den Küchentisch, vielleicht auf denselben Platz, den meine Mutter bevorzugt hatte, vielleicht auf den anderen – auch das war nicht mehr zu ergründen, nicht einmal das. Ich stützte den Kopf in die Hände, müde von den Bildern, müde von den Fragen. Das stumme blaue Fernsehlicht der Nachbarn flackerte durchs Fenster, erwartet inzwischen, vertraut. Das anschwellende Zischen des sich erhitzenden Wassers, das leise Schmatzen des Katers, mein eigener Atem, sonst gar nichts, Stille. Nur meine Gedanken.
    Ein japanisches Koan fiel mir ein. Eines dieser Rätsel, über das Zen-Meister ihre Schüler meditieren lassen, um sie zur Erleuchtung zu führen. Meine Lehrerin an der Musikhochschule hatte mir das in der letzten Stunde vor dem Examen mit auf den Weg gegeben. Es könne mir trotz Ivos Tod vielleicht helfen, wieder ins Spiel zu kommen, hatte sie behauptet.
    Wenn du auslöschst Sinn und Klang – was hörst du dann?
    Es war nicht zu beantworten, natürlich nicht. Ein Rätsel jenseits menschlichen Begreifens – genau das sollte ein Koan ja sein. Es hatte mich wütend gemacht damals, ich hielt es für Unsinn, und natürlich konnte es mich nicht davor bewahren, durch die Prüfung zu fallen, weil ich mittendrin einfach nicht mehr fähig war weiterzuspielen. Ich hatte danach nicht mehr an das Koan gedacht, hatte versucht es zu vergessen, genau wie die Träume von einer Konzertkarriere, die ich einmal gehegt hatte. Aber nun, da mir dieses Rätsel wieder eingefallen war, kam es mir vor, als würde sich doch eine Wahrheit darin verbergen. Eine Wahrheit jenseits aller Erwartungen und Erfahrungen, die deshalb möglicherweise die einzige Wahrheit war, die etwas zählte.
    Das Wasser begann zu kochen, ich gab die Farfalle hinein, fast im selben Augenblick klingelte mein Handy.
    »Rixa, gut!«, begrüßte mich mein Vater und redete sofort weiter, so gehetzt, als fürchte er, ich würde gleich wieder auflegen.
    »Alex hat mich gerade angerufen. Er ist jetzt unterwegs zum Flughafen. Er landet morgen Nacht in Berlin. Ich habe ihm gesagt, dass du ihn abholst. Ich hatte ihn gebeten, noch umzubuchen, und das hat geklappt. Er wollte ursprünglich direkt nach Köln fliegen. Aber so ist es besser. So könnt ihr übermorgen zusammen zu Dorotheas Anwalt gehen und dann gemeinsam hierher fahren.«
    »Was für ein Anwalt?«
    »Dr. Gruber, der sie damals bei der Scheidung … Ich dachte, es sei durchaus möglich, dass sie ihm die Treue gehalten hat, und habe ihn daher gestern kontaktiert. Sie hatte ein Testament verfasst, Rixa. Bei Dr. Gruber.«
    Ein Testament. Und mein Vater und Alex geben die Dramaturgie vor, geschäftig und sachlich, ohne den Rest der Familie mit einzubeziehen, genau wie früher. Ich setzte mich wieder, mein Handy am Ohr. Der Rest der Familie Hinrichs – das war nur noch ich. Auf dem Kühlschrank schimmerte unser glückliches Kinderbadefoto im Fernsehlicht der Nachbarn.
Wir müssen doch zusammenhalten.
Wer hatte das wann zu wem gesagt? Ich zu Alex, vor ein paar Tagen.
Nach Ivos Tod hast du das aber anders gesehen,
hatte er erwidert. Und er war nicht gekommen, rief mich nicht einmal zurück, sondern besprach sich mit unserem Vater.
    Ich dachte an diese aus jeglicher Zeitrechnung gefallenen Stunden vor zwölf Jahren, nachdem Alex mir gesagt hatte, dass Ivo tot war. Wie ich in seinen Armen geschrien und getobt hatte und dennoch keinen Trost fand und ihm nicht nah kam. Irgendetwas war damals zwischen uns unwiderruflich zerbrochen.
    Das Wasser kochte über. Ich sprang auf, riss den Topf zur Seite, verbrannte mir die Finger. Auf dem Ceranfeld verkrustete das Nudelwasser zu einer stinkenden Schicht. Ich versuchte sie abzuwischen, verbrannte mich beinahe noch einmal.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob Alex auf meine Begleitung großen Wert legt«, sagte ich und zog eine Grimasse, weil ich selbst merkte, dass ich wie ein Teenager klang.
    »Rixa, ich bitte dich.« Mein Vater seufzte, ebenfalls exakt so wie früher. »Alex ist einfach wahnsinnig eingespannt, das ist ein

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