Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
kommt und sie geht. Manchmal ist Letzteres durchaus angenehm.«
»Seine Lungenschwäche ist ein Kriegsandenken. Wir haben zusammen bei Reims gekämpft, später im Studium dann auch im Freikorps.«
»So, na dann sind wir ja schon beim richtigen Thema.« Petermann schaltet in den nächsten Gang. »Sie sind ein hervorragender Mann, Retzlaff, wie ich schon wiederholt betonte. Um es kurz zu machen: Wir brauchen Sie. Und zwar an der richtigen Stelle.«
»Mein Platz ist heute nicht mehr auf dem Feld, sondern auf der Kanzel.«
»Das weiß ich.« Petermann lächelt. »Und genau darum geht es.«
Sattgelbe Rapsfelder fliegen vorbei. Holundergesträuch mit weiß blühenden Tellern. Dann umhüllt sie die maigrüne Kuppel des Waldes und der Fahrtwind wird kühler.
»Klütz«, sagt Petermann. »Das ist das Ziel unseres kleinen Ausflugs. Dort will Ihr Kollege Becker Sie einsetzen, Retzlaff, dort will auch ich Sie gern sehen. Nicht in diesem – mit Verlaub – gottverlassenen Kaff, in dem Sie bislang wirken.«
Klütz also, Klütz, das ist schon eine Kleinstadt. Theodor denkt an Elise und an die armseligen Katen von Poserin. An die Tagelöhner, die sich oft monatelang von fauligen Kartoffeln ernähren, und manchmal nicht einmal das. An die Kinder, die, falls sie den Winter überleben, trotzdem nicht zur Kirche kommen, weil sie keine Schuhe besitzen. Was wird aus ihnen werden, wenn er nicht mehr da ist? Wird sein Nachfolger sich kümmern und wird die Politik in Berlin das überhaupt noch erlauben? Noch gibt es Steuergelder für die Kirche und seine Arbeit, aber wenn die Roten sich doch noch durchsetzen, kann das ganz schnell vorbei sei, dann kann er womöglich nicht einmal mehr seine eigene Familie ernähren.
Er wendet sich zum Fenster, schickt den Blick in die Ferne. In Klütz gibt es einen Bahnhof, einen Marktplatz, Geschäfte. Die Hansestädte sind von dort aus nicht weit: Lübeck und Hamburg und Wismar. Die Ostsee. Er sieht Elise an Hermanns Arm vor dem Pfarrhaus stehen und ihm winken, merkt, wie sich etwas in ihm zusammenzieht. Wie fröhlich sie immer ist, wenn sie mit ihrem Großcousin ins Sächsische verfallen und in alten Kindheitserinnerungen an ihr Stadtleben schwelgen kann. Und Hermann – fast könnte man meinen, der liebe sie mehr, als ihm zusteht. Er ruft seine Gedanken zur Ordnung, spannt die Schultern an. Klütz ist das Thema der Stunde, Klütz, er begreift selbst nicht, was ihn eigentlich zögern lässt. Petermann hat ja recht, Poserin ist ein Nest, er hat dort alles erreicht, was zu erreichen war, es ist an der Zeit für ihn, weiterzuziehen. Vorwärts, voran, zu neuen Ufern.
Der Wald mündet in eine Lindenallee, das nächste Dorf kommt in Sicht, am Ufer des Löschteichs weiden Gänse und Hühner, dann ziehen Katen an ihnen vorbei, die Kirche, ein Kuhstall, und schon liegt auch dieser Ort hinter ihnen und sie fahren erneut durch sanft schwingende Felder. Es geht schon auf Sternberg zu, die Chaussee wird nun breiter, fast kommt es Theodor so vor, als wolle Gott ihm beweisen, dass es auch leicht gehen kann in diesem Leben, dass er auf dem richtigen Weg ist.
»Es soll eine katholische Kirche in Klütz entstehen.« Petermann zündet sich eine Zigarette an. »Die Gemeinde hat Gelände zur Verfügung gestellt, es heißt, die Gräfin Bothmer persönlich gibt das Geld, der Baubeginn ist schon in wenigen Wochen.«
»Es gibt Katholen in Klütz?«
Petermann nickt. »Tja, wie man’s nimmt. Bislang eigentlich nicht, außer den Erntehelfern im Sommer, und das sind Polacken.«
»Eine katholische Kirche. Das ist nicht zu fassen!«
»Fehlt nur noch eine Synagoge. Aber da sei Gott vor. Gott und die Partei.«
»Katholen. Juden – wir sind hier doch in Mecklenburg.«
»Eben, Retzlaff, eben. Begreifen Sie nun, warum ich Sie in Klütz wissen will? Ihr Vorgänger war zu weich und wohl auch schon zu alt. Die Stadt braucht jemanden mit mehr Biss. Da ist Superintendent Becker ganz meiner Meinung.«
Sie reden sich warm, durchqueren Sternberg, dann Wismar. Fast unwirklich schnell geht das Reisen in einem Automobil. Auch darüber sprechen sie und fast wie durch Zauberei liegt auf einmal in der Ferne der Klützer Kirchturm vor ihnen und zur Rechten die Ostsee, ein blaues Leuchten.
»Ihr neues Reich, wenn Sie es denn wollen«, Petermann bremst. »Sehen Sie es sich nur in Ruhe an. Soweit man den Kirchturm noch erkennen kann, soweit reicht der Klützer Winkel.«
Reich. Gottesreich. Deutsches Reich. Das Wort ist sehr groß und
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