Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
seiner Gemeinde und summt OM – ein groteskes Bild, ein grotesker Gedanke. Aber vielleicht hatten die Tibeter ja recht, und das Urmantra OM war in seinen Gottesdiensten dennoch vorhanden. Gibt es Klang, den man nicht hört? Natürlich, ja. Taube lernen die Schwingungen von Musik zu erfühlen, Beethoven komponierte sogar, als er ertaubt war. Der Ton hinter dem Ton – durch ein Lauschen nach innen, nach dem Klang in der Stille, kann man ihn erfahren. Jenseits der weltlichen Geräusche. Jenseits des Wollens. Ein tibetischer Mönch kann bis zu sechs Töne gleichzeitig singen. Die Vibrationen seines Bauchfells erzeugen diesen Mehrklang. Nur durch Meditation ist das zu meistern, genau wie der Obertongesang, den in Europa erstmals Mönche in den gregorianischen Gesängen praktizierten.
Ich lief auf und ab, ohne den Ausgang, durch den Alex gleich kommen musste, aus den Augen zu lassen. Wir hatten nicht telefoniert, ich hatte keine Ahnung, ob er mich hier überhaupt erwartete. Ich war nicht einmal davon überzeugt, dass er überhaupt von mir abgeholt werden wollte. Wann hatten wir uns zum letzten Mal gesehen? Vor über zwei Jahren. Wir schickten uns hin und wieder Mails und Fotos und telefonierten, wenn wir Geburtstag hatten. Alex’ Unifakultät besaß neuerdings einen Facebook-Account, auf den sein Mailabsender mich jedes Mal hinwies. Aber was er dort postete, wusste ich nicht, weil ich noch nie ein Bedürfnis verspürt hatte, mein Privatleben an einem globalen Umschlagplatz für Banalitäten breitzuwalzen. Der Crewklatsch auf der Marina reichte mir völlig.
Endlich bewegte sich etwas hinter der Absperrung. Ein Ehepaar mit rosa Herzluftballons drängelte sich vor mich und schloss kurz darauf eine braun gebrannte junge Frau in die Arme, die einen gigantischen Rollkoffer hinter sich her zog. Die Tochter zurück aus der großen weiten Welt. Sie umarmten sich alle drei, redeten durcheinander und lachten. Ein paar blasse Engländer folgten. Dann mein Bruder, groß und dünn, fremd und vertraut und ebenso gebräunt wie die junge Frau, die nun statt ihres Koffers die Luftballons in der Hand hielt. Ich hob die Hand, lief auf Alex zu. Er trug Treckinghosen, Segelschuhe, Sweatshirt und Fleecejacke, und seine Baseballkappe saß noch genauso schief auf seinem Kopf wie früher. Irgendwann hatte unsere Mutter es aufgegeben, ihm seine diversen Kappen und Mützen auf dem Kopf zurechtzurücken und all die Knöpfe, die seine Kleidungsstücke auf mysteriöse Weise beinahe täglich verloren, sofort wieder annähen zu wollen. Spät allerdings, als er schon in der Pubertät war und sie um mehr als Haupteslänge überragte.
»Alex!«
»Rixa!«
Einen Augenblick lang standen wir unschlüssig voreinander, wie zwei Vertreter sehr unterschiedlicher Spezies. Dann umarmten wir uns und küssten uns auf die Wangen, auf eine Art, die dennoch distanziert blieb.
»Ich wusste nicht, ob du mich abholst, weil ich ja nicht mehr anrufen konnte.«
»Unser wohlmeinender Vater hat darauf bestanden.«
»Und neuerdings tust du, was er dir sagt?«
»Soll ich wieder gehen?«
»Nein, verdammt! Jetzt schnapp nicht gleich ein.« Er grinste, um seine Worte zu lindern, und rückte seinen Rucksack zurecht, der allenfalls halb gefüllt war. Das weitaus gewichtigere Gepäckstück war ganz eindeutig die Umhängetasche mit seinem Laptop, die man ihm als Handgepäck hatte durchgehen lassen.
»Der Ausgang ist drüben, am besten, wir nehmen ein Taxi.«
»Und wohin fahren wir?«
»Friedenau. Aber ich muss dich warnen: Ich hab nicht aufgeräumt, weil ich versuche, mich in Mutters Sachen zurechtzufinden.«
Er warf seinen Rucksack in den Kofferraum des Taxis, legte seine Umhängetasche zwischen uns auf die Rückbank.
»Wie war dein Flug?«
»Lang. In Singapur mussten wir drei Stunden warten, dann noch einmal zwei Stunden in London …«
Smalltalk. Fragen, die nicht wirklich Fragen waren, sondern ein Tasten, und draußen einmal mehr die winterstarre Stadt und der Widerschein der Leuchtreklamen auf den Gehwegen, nicht mehr so bunt jetzt, vielleicht weil der Schnee nicht mehr sauber war. Ich sah Alex an, der den Reißverschluss seiner Fleecejacke zuzog und den Kopf von mir weg zum Fenster wandte. Es sollte bald wärmer werden, hatten sie im Radio gesagt, Tauwetter, Schneeschmelze, ich konnte mir das kaum noch vorstellen.
Ich dachte an die Fotos in den Alben unserer Mutter, diese Ansammlung von Schlaglichtern unserer gemeinsamen Kindheit und Jugend. Die Sechzigerjahre,
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