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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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für das Amt eines Gemeindepfarrers maßlos übertrieben. Theodor steigt aus und läuft ein paar Schritte ins Feld. Mücken sirren. Fliegen. Im Mittagsdunst auf der See zieht ein Dampfer seine Bahn. Theodor hebt die Hand und beschattet seine Augen. Als Schuljunge hatte er sich für die Geografie begeistert. Die weite Welt wollte er einst erkunden, doch es war anders gekommen und das ist gut so, vielleicht sogar besser. Eine sinnvolle Existenz. Von Gottes Gnaden.
    Der Horizont scheint zu flirren, sich in Helligkeit aufzulösen. Kühlungsborn kommt ihm in den Sinn, seine Kindheit dort scheint für ein paar Atemzüge lang ganz nah. Ihre Spiele im Sand und das ewige Kreischen der Möwen, die Steine und Quallen und Algen und Muscheln, die sie gesammelt haben, und um sie herum dieser Überfluss an Licht, diese Weite.
    Er wendet sich gen Westen und blickt auf Klütz. Der Kirchturm ist hoch und spitz. Ein Mahner für Gott. Ein Solitär in der Landschaft und so muss es auch bleiben. Sankt Marien heißt diese Kirche, einmal war er dort, vor vielen Jahren mit seinem Vater und Richard. Backsteingotik aus dem 13. Jahrhundert. Drei Kirchenschiffe. Die gewaltige Orgel kann Elise unmöglich bedienen. Er weiß noch, wie sehr ihn damals der Barockaltar mit den marmornen Engeln fasziniert hat, die hohe Halle und die reich verzierte Kanzel.
    »Das Pfarrhaus hat Schlossbaumeister Künnecke erbaut.« Petermann tritt neben ihn und bietet ihm eine Zigarette an. »Inzwischen ist es natürlich modernisiert. Es gibt fließend Wasser und gut funktionierende Öfen.«
    »Das wird meine Frau sehr erfreuen.«
    Petermann nickt und gibt ihm Feuer.
    »Ihre schöne Elise, ja. Sie wären dann auch für das Seebad Boltenhagen zuständig, für die Kurgäste dort, jedenfalls im Sommer. Von Klütz aus sind es bis dort kaum vier Kilometer. Und denken Sie an die Gesellschaften. Die Restaurants und die Kurkonzerte. Und an die gute Seeluft für Ihre Kinder.«
    Elise in ihrem grünen Seidenkleid. In einem Konzert. Auf der Seebrücke. An seiner Seite. Ihre leuchtenden Augen, ihre Hand in der seinen. Seine Frau. Seine Liebe. Auch für sie tut er, was er nun tun wird, auch für sie und die Kinder. Bloß weil dein Vater gegen diese neue Partei ist, muss das nicht auch dein Weg sein, hat sie neulich zu ihm gesagt. Du hast doch ein Recht auf deine eigene Meinung. Vor Hermanns Besuch war das, wieder sticht etwas in ihm. Aber Hermann wird sie ja wohl nicht mit seinen politischen Ansichten verstören, und selbst wenn, sie ist seine Frau, er trifft die Entscheidungen, er muss ja auch dafür geradestehen.
    Er spürt Petermanns Blick auf sich, sein Warten, aber er lässt sich dennoch Zeit mit seiner Antwort, sucht die passenden Worte, zieht an seiner Zigarette. Der Tabak schmeckt malzig und ein wenig bitter. Das Licht gleißt noch immer. Auch Petermanns Augen sind hell, beinahe durchsichtig sehen sie aus. Wie Glas. Doch ihr Blick ist lebendig. Unverwandt. Sinnend. Theodor gibt sich einen Ruck, entscheidet sich für die denkbar einfachsten Worte, und er weiß, dass sie richtig sind, sobald er sie ausspricht.
    »Sie haben recht, Herr Landrat. Ich werde mich bewerben.«
    »Und für was genau, wenn ich fragen darf?«
    »Für alles.«
    Petermann nickt. »Gut, Retzlaff, sehr gut. Dann schlagen wir ein.«

12. Rixa
    OM – das heilige Wort, das angeblich alles umfasst: die ganze Welt, den Kosmos – von Anfang bis Ende. Ich kann nicht erklären, warum mir das einfiel, während ich in Tegel auf Alex wartete. Seine Maschine war eine der letzten, die an diesem Abend noch landen würden. Der Flughafen rüstete sich bereits für die Nachtruhe, die meisten Boutiquen, Ticketschalter und Restaurants wurden geschlossen, und die Reisenden und Angestellten, die außer mir noch ausharrten, bewegten sich träger als am Tag, nicht mehr so zielstrebig, einige sahen aus, als ob sie eigentlich schon schliefen.
    Wenn du auslöschst Sinn und Klang, was hörst du dann?
Vielleicht blieb am Ende ja dieses OM, vielleicht war das die Lösung. Dieser Laut, der genau genommen aus drei Silben geformt wird, die zu einer verschmelzen. OM. A-U-M. Dreifaltigkeit. Dreieinigkeit. Wer das rezitiert, bringt seinen Körper zum Vibrieren. Die Tibeter glauben, aus den Schwingungen dieses Urmantras wurde die ganze Welt geschaffen. Angeblich ist auch das Amen, das sowohl in christlichen, als auch hebräischen und arabischen Gottesdiensten gesprochen wird, nichts anderes als ein OM.
    Mein Großvater steht im Talar vor

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