Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
die Siebziger, die Achtziger. Damals gab es noch keine Fleecejacken und Zipp-off-Hosen, doch von seiner Kleidung abgesehen wirkte mein Bruder wie eine verblüffend gelungene Kopie unseres Siebzigerjahre-Vaters. Er würde die Wuttiraden, die ich in den letzten Tagen auf seinen Anrufbeantworter gesprochen hatte, einfach übergehen, denn genau wie unser Vater hasste Alex Streit und vor allem Tränen. Und dennoch gab es einen Unterschied. Das Erwachsensein war damals anders gewesen. Die Eltern aus unseren Kindertagen erschienen mir früher wie Felsen. Unverrückbar, unzerstörbar. Nie schienen sie an ihrem Leben zu zweifeln oder unerfüllte Träume zu haben, sie lebten nach Regeln, in klar definierten Rollen. Allenfalls in den Nachtgeschichten meiner Mutter blitzte hin und wieder etwas anderes auf, Melancholie, womöglich auch Sehnsucht, die jedoch nie konkret genug war, als dass ich sie wirklich hätte fassen können.
Vater, Mutter, Kinder. Brötchenverdiener und Hausfrau. Gebügelte Hemden und Schürzen und Waschtage, Pudding zum Nachtisch und samstags Rasenmähen und Sportschau. Ich hatte mich lange davor gefürchtet, eines Morgens als Hauptdarstellerin eines solchen Lebens aufzuwachen, aber inzwischen waren Alex und ich älter, als unsere Eltern damals gewesen waren, und keiner von uns hatte eine Familie gegründet, und während wir nun stumm nebeneinander auf der Rückbank des Taxis saßen und ich Alex’ schief sitzende Schirmmütze betrachtete, kam es mir so vor, als wären wir eigentlich immer noch nicht erwachsen, sondern nur älter. Gealterte Kinder.
»Mein Gott«, sagte Alex, als wir im Wohnzimmer unserer Mutter angekommen waren, und es klang Englisch,
my God.
»Du hast ja wirklich ganze Arbeit geleistet, hier ist ja kein Durchkommen mehr.«
»Die bislang interessantesten Fundstücke liegen auf dem Tisch. Unser Großvater war nämlich …«
Er schüttelte den Kopf. »Später. Gleich. Ich muss erst mal unter die Dusche. Und ich hoffe, es gibt auch noch was zu essen?«
Ich suchte das Foto heraus, das unseren Großvater mit Wilhelm Petermann und den SA-Kameraden zeigte, während Alex im Bad war. Ich hatte noch ein weiteres Nazifoto gefunden. Eins von unserem Großvater auf einer Kirchenkanzel mit barock anmutenden Schnitzereien, von deren Balustrade eine Fahne mit Hakenkreuz hing. Ich nahm die beiden Fotos mit in die Küche und legte sie auf dem Kühlschrank bereit, neben die drei lachenden Hinrichsgeschwister, die einander umarmten und nichts von der unrühmlichen Vergangenheit ihres Großvaters ahnten, nichts von dem Leben, das vor ihnen lag, und schon gar nichts vom Tod.
Der Inhalt des Kühlschranks hatte sich unter meiner Regie nicht nennenswert verbessert, also öffnete ich eine Dose Linseneintopf aus dem Bestand meiner Mutter.
Heute bin ich mal so richtig faul, Leute.
Jedes einzelne Mal, wenn sie nicht frisch für uns kochte, sondern uns ein Fertiggericht servierte, hatte sie das verkündet. Und sie hatte dabei so einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Freude und Verwegenheit und schlechtem Gewissen, wie ein Kind, das ausbüxt und sich insgeheim schon damit abfindet, erwischt und für seine Eskapaden bestraft zu werden.
Ich schaltete den Herd an, deckte den Tisch, schnitt ein paar Scheiben Brot ab. Mein Magen begann zu rumoren. Irgendwann am Nachmittag hatte ich die übrig gebliebenen Nudeln vom Vortag gegessen, jetzt war es nach Mitternacht, die Zeit entglitt mir noch immer. Ich öffnete eine Flasche Rotwein und füllte eine Karaffe mit Wasser. Unsere Mutter hatte natürlich trotz aller behaupteten Faulheit immer noch frische Rindswürstchen vom Metzger in den Doseneintopf gegeben und gehackte Petersilie, doch es würde auch so gehen.
»Linsensuppe!« Alex kam barfuß in Shorts und einem sauberen T-Shirt in die Küche, mit noch nassem Haar, es war am Hinterkopf schütter.
»
Mom’s favorite
. Von Erasco.«
Wir lächelten uns an. Zaghaft. Wurden gleich wieder ernst. Vom selben Schlag, warum eigentlich sagte man Schlag? Der Duft eines Herrenparfums stieg mir in die Nase, vielleicht war es auch Aftershave – jedenfalls nichts, das ich von dem Alex aus früheren Zeiten kannte. Er wirkte gereift. Lässiger als früher. Mehr in sich ruhend. Es tat ihm gut, in Australien zu leben. Am Meer, bei seinen Fischen. Er hatte die richtige Entscheidung für sich getroffen. Ich war es, die einmal mehr den Halt verlor, die noch immer nicht wusste, wohin sie gehörte.
Alex setzte sich auf den
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