Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
ihn. Wenn er doch nur etwas mehr von seinen Empfindungen zeigen würde! Wie lange will er denn noch warten, bis er versucht, mich näher kennenzulernen?
Während der Fahrt durch die Stadt genoss Marie die kühle Abendluft, die bereits mit einem Hauch von Herbst durchsetzt war. Ein wenig bereute sie es nun, dass sie keinen Schal mitgenommen hatte, doch die Fahrt zum Anwesen der Bellamys dauerte nicht lange.
Bei ihren Spaziergängen durch die Stadt hatte Marie das Haus bereits gesehen und darüber gestaunt, dass es noch größer und prachtvoller war als das Anwesen der Woodburys. Im Lichtschein, der sowohl auf die Fassade als auch aus den Fenstern auf die Straße fiel, wirkte die Villa wie ein Palast. Gedämpfte Musik drang nach draußen, während Stallburschen damit beschäftigt waren, den Gästen die Kutschenschläge zu öffnen und den Kutschern dann ihre Stellplätze anzuweisen.
Als Marie den Ballsaal betrat, kam es ihr jedoch vor, als würde sich ein Schatten auf ihre Seele legen. Die ganze anfängliche Freude war auf einmal dahin, als sie, von einer Wolke aus verschiedenen Parfüms umweht, das Glitzern der Juwelen gewahrte, die viele der Frauen schmückten.
Allison Isbel hatte recht gehabt: Hier waren außer ihr keine gewöhnlichen Leute. Die meisten Gäste schienen nicht einmal aus Selkirk zu stammen. Wahrscheinlich hatten sie eine lange Reise auf sich genommen, um an diesem gesellschaftlichen Ereignis teilzunehmen. Dass wir nicht zu diesem Kreis gehören, kann uns jeder ansehen, dachte Marie beklommen. Damals im Lyzeum haben auch alle gewusst, was ich bin.
Da sie neben Jeremy ging, erntete sie noch größeres Aufsehen als ohnehin schon. Die Frauen durchbohrten sie regelrecht mit Blicken, während die Männer sie von oben bis unten musterten wie ein Rind auf dem Viehmarkt.
Ach Philipp, dachte sie verzweifelt. Wie gerne wäre ich jetzt bei dir und würde mir deine Geschichten anhören.
»Ah, Reverend Plummer!«
Die schrille Frauenstimme gehörte einer etwa sechzigjährigen Matrone in einem grellblauen Kleid, die mit weit ausgestreckten Armen auf das Paar zukam. Das konnte doch unmöglich die Frau sein, die noch zwei Kinder im Schulalter hatte!
»Das ist Mrs Bellamy senior, die Mutter unseres Gastgebers«, bemerkte Jeremy flüsternd. »Ihr Kleid würde wesentlich besser zu ihrer Schwiegertochter passen, findest du nicht?«
Marie enthielt sich einer Antwort und unterdrückte ein Kichern, obwohl sie fand, dass er recht hatte.
Schweres Parfüm wehte ihnen entgegen, als Mrs Bellamy sie beide in die Arme schloss.
»Welch eine Freude, Sie zu sehen, Reverend Plummer! Das muss Ihre Verlobte sein, nicht wahr?«
Jeremy blickte sie lächelnd an. »Ja, das ist sie. Wenn ich vorstellen darf: Marie Blumfeld.«
»Oh, Sie sind ja wirklich ein ganz reizendes Ding! Kommen Sie mit, mein Sohn und meine Schwiegertochter brennen darauf, Sie kennenzulernen.«
Ehe Marie durch den Sinn schießen konnte, dass Stella die Einladung wirklich nur der Neugierde der Gesellschaft auf die neue Lehrerin verdankte, zog die alte Mrs Bellamy sie auch schon mit sich in einen Pulk von Paaren, deren Roben und Anzüge gewiss hundertmal so teuer waren wie ihr eigenes Kleid oder Jeremys Anzug. Sogleich verstummte die angeregte Unterhaltung; alle Augen richteten sich auf Marie.
Ihr entging nicht, dass sich die Augen einer der Frauen für einen Moment zu schmalen Schlitzen verengt hatten. Auch diese Frau trug ein recht eng anliegendes Kleid mit sehr viel Spitzenzier, in einer Farbe, die an Champagner erinnerte. Paris, schoss es Marie durch den Kopf. Im Lyzeum hatte sie einige Mädchen von der dortigen Mode schwärmen gehört und auch einmal ein Bild gesehen. Das Modell war zwar wesentlich moderner als damals, doch der Stil war unverkennbar.
»Das ist die Braut von Reverend Plummer«, stellte Mrs Bellamy senior sie vor. »Ist sie nicht ein hübsches Ding?«
»Ganz reizend!«, sagte der Mann im feinen Gehrock, der neben der Frau in dem hellen Kleid stand. »Ich bin Matthew Bellamy, und das ist meine Frau Linda. Seien Sie auch von uns herzlich willkommen geheißen in Selkirk.«
Er blickte zu der Frau an seiner Seite. Die schien weniger erfreut zu sein, Marie kennenzulernen, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Sie sind die neue Lehrerin, nicht wahr?«, sagte sie süßlich. Marie entging der Seitenhieb nicht. Vor all diesen reichen Leuten, die wahrscheinlich Angestellte und Dienstboten hatten, stellte Linda Bellamy augenblicklich klar, dass
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