Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
tun konnte. Sie musste fort von hier, fort aus diesem veilchengeschwängerten, stickigen Raum voller abschätziger Blicke und mühsam verhohlener Drohungen. Sonst würde sie tatsächlich noch in Ohnmacht fallen, und das Letzte, was sie wollte, war, in solch einem Zustand von diesen Leuten begafft zu werden.
»Verzeihen Sie.« Marie drehte sich um, und obwohl in ihrem Innern ein Sturm tobte, der sie zu zerfetzen drohte, versuchte sie, sich so würdevoll wie möglich durch die Menge zu drängen. Während Jeremys Stimme von Corrigan abgelöst wurde, der sich rührselig für die Auszeichnung bedankte, hatte Marie das Gefühl, der Wald aus menschlichen Leibern würde kein Ende nehmen. Ein seltsames Brummen erfüllte ihre Ohren, und vor ihren Augen begann es zu flackern, als es ihr schließlich doch gelang, eine der Türen zu erreichen.
30. Kapitel
Obwohl sie das Gefühl hatte, nicht richtig atmen zu können, rannte Marie den Sidewalk entlang. Verdammtes Korsett, dachte sie erneut, obwohl ihr vollkommen klar war, dass nicht das enge Kleidungsstück an ihrem Unwohlsein schuld war. Dass Jeremy dem Bürgermeister offen zugestimmt hatte, trug ebenso zu ihrer Luftnot bei wie Corrigans spöttischer Blick, der ihr klargemacht hatte, dass ihre Ansichten nach der Heirat wohl keine große Zukunft haben würden.
Als sie nach einer Weile anhalten musste, weil es erneut vor ihren Augen zu flimmern begann, entdeckte sie in der Ferne das Schulhaus. Dass die Fenster allesamt dunkel waren, war ihr nur recht. Sie hatte keine Lust zu reden, wollte nur Ruhe und Zeit, um endlich nachzudenken.
Als sie das Schulhaus erreichte, legte sich das Schwindelgefühl ein wenig. Isbel hatte abgeschlossen, doch Marie fand den Notschlüssel im Versteck unter der Treppe.
Wie ein schützender Mantel umschloss sie die kühle Dunkelheit, als sie ihrem Klassenzimmer zustrebte. Keuchend ließ sie sich auf eine Schulbank nahe der Wand nieder und lehnte sich an die kalten Steine. Der Geruch von Bohnerwachs und Kreidestaub beruhigte sie zwar ein wenig, doch das Gefühl, dass ihr Innerstes von einer Eisenklammer umfangen war, wollte auch jetzt nicht weichen.
Ihr Verlobter stand auf der Seite des Bürgermeisters! Wahrscheinlich heckten sie jetzt gemeinsam aus, was sie gegen Onawahs Stamm unternehmen wollten. Hilflosigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihre geballten Fäuste zitterten. Ach, wenn ich doch nur ein Mann wäre! Wenn ich doch Möglichkeiten hätte, sie zu stoppen!
»Miss Blumfeld?«
Marie zuckte zusammen und blickte erschrocken zur Tür. Dort stand Philipp Carter und sah sie mindestens ebenso erschrocken an. Wie immer hing ihm das Haar etwas unordentlich in die Stirn, doch seine Kleider waren so ordentlich, als wollte er in die Kirche. Und das, obwohl er doch längst Feierabend hatte!
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja«, keuchte Marie. »Alles in Ordnung.«
Philipp legte den Kopf schräg. »Scheint mir aber nicht so. Selbst im Dunkeln kann man sehen, dass Sie ganz schrecklich blass sind.«
»Ich …« Nach kurzem Zögern fasste sich Marie ein Herz. »Ich hatte eine Begegnung mit Mr Corrigan. Auf dem Ball der Bellamys.«
Philipp zog die Stirn kraus. »Corrigan, der Indianerhasser? Sie haben doch wohl nicht einem seiner Sprösslinge beibringen wollen, dass Indianer Menschen sind?«
»Corrigan hat Kinder?« Als Vater konnte sie ihn sich nun wirklich nicht vorstellen.
»Keine Ahnung, aber er hat eine Frau, und er scheint mir alt genug, um Kinder zu haben. Die Frage ist nur, hatte Gott auch vor, ihm dieses Geschenk zu machen oder wusste er bereits, was für ein Ekel aus ihm werden würde?«
Schmunzelnd setzte sich Carter in die gegenüberliegende Bank. »Es ist schon merkwürdig«, begann er, während er mit der Hand nachdenklich über die sauber geschrubbte Tischplatte strich. »Früher wollte ich aus den Schulhäusern immer nur weglaufen. Jetzt finde ich, dass es hier gar nicht mal so schlecht ist.«
Sein aufmunterndes Lächeln riss jetzt auch Marie mit.
»Und ich habe nie an einem anderen Ort sein wollen. Das Zusammenleben mit meinem Vater war … schwierig. In der Schule hatte alles seine Ordnung, und ich habe stets nur eines werden wollen.«
»Lehrerin!«, kam Philipp ihr zuvor.
»Ja, Lehrerin.« Marie zupfte ein wenig verlegen an ihrem Ärmel. »Langweilig, nicht wahr? Jedenfalls finden das die meisten Menschen.«
»Ich nicht«, entgegnete Carter lächelnd. »Ich finde, dass ein Mensch schon ziemlich viel Mut haben muss, um
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