Das Lied des Achill
gedacht, obwohl es auf der Hand lag: In unseren Geschichten gab es viele unterschiedliche Charaktere. Den großen Perseus oder den bescheidenen Peleus. Herakles oder dessen fast vergessenen Gefährten Hylas. Manchen waren lange Gedichte gewidmet, anderen nur eine Zeile.
Er richtete sich auf und umfasste seine Knie mit den Armen. »Ich glaube, sie fürchtet, dass ein anderer Hektor tötet. Bevor ich es tue.«
Eine weitere Sorge. Womöglich blieb ihm noch wenig Zeit. »Wer könnte das sein?«
»Ich weiß es nicht. Ajax hat es versucht und ist gescheitert. So auch Diomedes. Die beiden sind die besten nach mir. Mir fällt sonst niemand ein, der dazu in der Lage wäre.«
»Was ist mit Menelaos?«
Achill schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist zwar tapfer und stark, kommt aber kaum in Frage. Er würde vor Hektor zerbrechen wie Wasser am Fels. Also werde ich es sein oder niemand.«
»Du wirst es nicht tun«, sagte ich, darauf bedacht, meine Worte nicht wie flehentliches Bitten klingen zu lassen.
»Nein.« Er schwieg für eine Weile. »Aber ich kann es sehen. Das ist das Seltsame. Wie in einem Traum. Ich sehe mich, wie ich den Speer schleudere, und ich sehe ihn fallen. Ich gehe auf seinen Leichnam zu und schaue auf ihn herab.«
Furcht stieg in mir hoch. Ich holte tief Luft. »Und was dann?«
»Das ist das Seltsamste. Ich sehe sein Blut und weiß, dass mir der eigene Tod bevorsteht. Im Traum aber kümmert’s mich nicht. Im Gegenteil, ich bin erleichtert.«
»Glaubst du, es hat mit der Prophezeiung zu tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, es ist nichts weiter als Tagträumerei.«
Ich versuchte, meine Stimme so unbekümmert klingen zu lassen wie seine. »Du hast wohl recht. Hektor hat dir schließlich nichts getan.«
Er lächelte, wie ich es gehofft hatte. »Ja«, sagte er. »Den Ausspruch kenne ich.«
Während der langen Stunden seiner Abwesenheit suchte ich im Lager nach Gesellschaft, um auf andere Gedanken zu kommen. Thetis’ Nachricht hatte mich verstört. Solange die Götter untereinander Streit hatten, war Achills Ruhm gefährdet. Mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, dass ich fast wahnsinnig wurde. Ich brauchte Ablenkung. Einer der Soldaten wies mir den Weg zum weißen Zelt der Ärzte. »Wenn du dich nützlich machen willst – sie brauchen immer Hilfe«, sagte er. Ich erinnerte mich an Cheirons geduldige Hände und seine chirurgischen Instrumente an den Rosenquarzwänden. Ich ging.
Es war dunkel im Inneren des Zelts, die Luft süß und schwer von metallischem Blutgeruch. Ich traf auf Machaon, den bärtigen, grobschlächtigen Arzt, der aus praktischen Gründen den Oberkörper entblößt und einen alten Schurz um die Lenden gewickelt hatte. Seine Haut war dunkler als die der anderen Griechen, obwohl er sich die meiste Zeit im Schatten aufhielt. Er hatte, wiederum aus praktischen Gründen, die Haare kurz geschoren, damit sie ihm bei der Arbeit nicht ins Gesicht fielen. Er beugte sich gerade über das verwundete Bein eines Mannes und löste vorsichtig eine Pfeilspitze aus dem Fleisch. Auf der anderen Seite stand sein Bruder Podaleirios, der sich eine Rüstung angelegt hatte und mit einem knappen Abschiedsgruß das Zelt verließ. Er war dafür bekannt, dass er lieber kämpfte als heilte, diente jedoch in beiden Lagern.
Ohne aufzublicken, sagte Machaon: »Wenn du so lange auf den Beinen stehen kannst, wirst du wohl kaum verwundet sein.«
»Nein«, erwiderte ich. »Ich bin gekommen –« Ich stockte, als er die Pfeilspitze herausgezogen hatte und zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe hielt. Der Soldat seufzte erleichtert.
»Ich höre.« Seine Stimme klang trocken, aber nicht unfreundlich.
»Brauchst du Hilfe?«
Er gab ein Geräusch von sich, das ich als Zustimmung deutete. »Setz dich und reiche mir die Salben.« Er hatte mich immer noch keines Blicks gewürdigt. Ich gehorchte und sammelte ein paar kleine Flaschen ein, die auf dem Boden verstreut lagen. In manchen steckten Kräuter, andere waren mit Salbe gefüllt. Ich roch daran und erinnerte mich, Knoblauch und Honig gegen Entzündungen, Mohnsamen zur Beruhigung und Schafgarbe zur Blutgerinnung, an Dutzende von Heilkräutern, die ich in der Höhle des Zentauren kennengelernt hatte und an ihrem Geruch unterscheiden konnte.
Ich reichte ihm, was er haben wollte, und sah zu, wie er dem Verwundeten eine Prise beruhigenden Pulvers auf die Oberlippe streute, damit er daran leckte und den ätherischen Duft durch die Nase einsaugte.
Weitere Kostenlose Bücher