Das Lied des Achill
Umhang von den Schultern herab. Kein Wunder, dass er Aphrodites Liebling war: Er schien ebenso eitel zu sein wie sie.
Von Ferne sah ich manchmal Hektor, und das auch nur dann, wenn sich vor mir im Getümmel für kurze Zeit eine Lücke auftat. Seine eigenen Männer hielten so weit Abstand von ihm, dass er wie alleingelassen dastand. Er wirkte beherrscht und konzentriert, schien jeden seiner Schritte zu bedenken. Seine Hände waren groß und zeugten von harter Arbeit, und einmal sah ich, als wir abzogen, dass er das Blut davon abwusch, um unbesudelt beten zu können. Ein Mann, der die Götter immer noch liebte, obwohl seine Brüder und Vettern ihretwegen starben, einer, der mit Leidenschaft kämpfte, nicht etwa um flüchtigen Ruhm, sondern für seine Familie.
Ich wagte mich nicht näher an ihn heran. Auch Achill hielt sich ihm fern. Wenn er ihn erblickte, wandte er sich rasch ab und strebte auf andere Herausforderungen zu. Als Agamemnon ihn einmal fragte, wann er den Prinzen von Troja stellen würde, zeigte er sein betont ahnungsloses Lächeln und antwortete: »Hektor hat mir nichts getan.«
Dreiundzwanzigstes Kapitel
A n einem Feiertag kurz nach unserer Landung vor Troja war Achill in aller Frühe aufgestanden. »Wo willst du hin?«, fragte ich.
»Zu meiner Mutter«, sagte er, und bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er das Zelt verlassen.
Seine Mutter. Natürlich. Die Küste Anatoliens war für sie ebenso problemlos erreichbar wie irgendeine griechische Insel. Und ihre Trauer bewirkte, dass ihre Besuche umso länger ausfielen. Achill ging immer im ersten Morgenlicht und kam erst zurück, wenn die Sonne fast im Zenit stand. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Was mochte sie ihm sagen, das so viel Zeit in Anspruch nahm? Ich fürchtete das Schlimmste, dass sie ihn mir entreißen würde.
Oft kam Brisëis und wartete mit mir. »Wollen wir hinauf in den Hain gehen?«, fragte sie dann. Allein ihre sanfte Stimme und der Wunsch, mich zu trösten, halfen mir in meiner Not. Und mit ihr durch den Hain zu schlendern beruhigte mich. Wie Cheiron schien sie um alle Geheimnisse des Waldes zu wissen – wo sich Pilze versteckten und Kaninchen ihre Bauten hatten. Sie brachte mir sogar die Namen von Pflanzen und Bäumen in ihrer Sprache bei.
Wenn wir erschöpft waren, setzten wir uns auf den Kamm der Hügelkuppe, der das Lager überblickte, so dass ich sehen konnte, wann er zurückkehrte. Oft saßen wir dort zusammen. An diesem Tag hatten wir Kräuter im Wald gesammelt und der Koriander, der in einem kleinen Körbchen neben ihr stand, verströmte einen würzigen Duft.
»Er kommt bestimmt bald zurück«, sagte sie. Ihre Worte klangen wie frisch gegerbtes Leder, noch ein wenig steif, weil kaum abgenutzt. Als ich nicht antwortete, fragte sie: »Wo bleibt er nur so lange?«
Warum sollte sie nicht Bescheid wissen? Es war schließlich kein Geheimnis.
»Seine Mutter ist eine Göttin«, erklärte ich. »Eine Meernymphe. Er trifft sich mit ihr.«
Ich hatte erwartet, dass sie erschrecken oder Angst bekommen würde, doch sie nickte und sagte: »Ich dachte mir schon, dass er – etwas Besonderes ist. Er –« Sie stockte. »Er bewegt sich anders als wir Menschen.«
Ich lächelte. »Wie bewegt sich denn ein Mensch?«
»So wie du«, antwortete sie.
»Also tollpatschig.«
Dieses Wort kannte sie noch nicht. Ich machte ihr seine Bedeutung vor, was sie zum Lachen brachte. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein, so bewegst du dich nicht. Ich meinte etwas anderes.«
Was sie tatsächlich meinte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Moment kam uns Achill entgegen.
»Hier seid ihr also«, sagte er. Brisëis stand auf und kehrte zu ihrem Zelt zurück. Achill warf sich neben mir auf den Boden und verschränkte die Hände hinterm Kopf.
»Ich habe Hunger«, sagte er.
»Nimm.« Ich reichte ihm den Käserest, der vom Mittagessen übrig geblieben war. Er langte dankbar zu.
»Wie war das Gespräch mit deiner Mutter?«, fragte ich so nervös, dass ich Mühe hatte zu sprechen. Allein der Gedanke an seine Mutter ließ mich erschaudern.
Er stieß einen Schwall Luft aus, halb seufzend. »Sie macht sich Sorgen um mich«, antwortete er.
»Warum?« Ich sträubte mich gegen den Gedanken, dass sie sich genauso wie ich um ihn sorgte.
»Sie sagt, die Götter ergreifen Partei in diesem Krieg und streiten miteinander. Sie haben mir zwar Ruhm versprochen, verschweigen aber, wie groß er sein wird.«
Daran hatte ich noch gar nicht
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