Das Lied des Kolibris
Nachbardorf die Ankunft feindseliger Männer ankündigten. Schließlich roch ich den Angstschweiß meiner Schwester Thandeka, und ich hörte eine Frauenstimme sagen: »Mein Gott, die stinkt ja, als wäre sie schon am Verwesen.«
Ich schlug die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis ich die junge Frau, die mich mit einem feuchten Tuch abtupfte, als die Dirne des Schinders erkannte. Jetzt erinnerte ich mich wieder. Man hatte mir den kleinen Finger der rechten Hand abgehackt, und die Wunde hatte sich entzündet. Ich hob meine Hand, um nachzusehen, ob man mir nicht noch weitere Finger entfernt hatte, aber ich zählte vier Finger und sah einen sauberen Verband um den Stumpf.
»Hast noch mal Glück gehabt«, hörte ich dieselbe Stimme wie vorhin. Es war ein Mann, den ich nicht kannte. Ich bezweifelte, dass es sich um einen Arzt handelte, denn eine solche Ausgabe war ich dem Schinder gewiss nicht wert.
»Wer …?«, röchelte ich.
»Ich bin Cauã«, sagte er. »Ich bin Heiler.«
Ich betrachtete ihn nun genauer und stellte fest, dass er gar kein Weißer war, wie ich anfangs geglaubt hatte. Er war ein Indio-Mischling, doch das glatte schwarze Haar und die hellbraune Haut hätten auch zu einem Portugiesen gehören können, der sich länger in der Sonne aufgehalten hatte. Er war frisiert und gekleidet wie die Weißen, davon hatte ich mich täuschen lassen.
»Ich war zufällig in der Gegend, als mein alter Freund Sopa mir von dir erzählte. Der Schinder hat mir erlaubt, dich zu behandeln, aber nur, weil ich keine Gegenleistung verlangt habe.«
»Warum …?«
»Warum ich keine Bezahlung will? Ach, weißt du,
tia
, ich glaube daran, dass ich für meine guten Taten im Jenseits belohnt werde.«
»Du Christ?«, fragte ich ihn.
Er nickte. »Ja,
tia
, das bin ich.«
Es gefiel mir, mit
tia
, Tante, angesprochen zu werden. Es war eine Anrede, die älteren Frauen vorbehalten war, denen man Freundschaft und Respekt entgegenbrachte. Nie zuvor hatte mich jemand »Tante« genannt. Früher war ich zu jung dafür gewesen, und nun, da ich an der Schwelle zum letzten Lebensabschnitt stand, war ich fast ausschließlich von Leuten umgeben, die grob und unhöflich waren und mich niemals mit der netten Anrede bedacht hatten.
»Sprich lieber nicht so viel. Du hast das Schlimmste überstanden, aber du musst viel schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich lasse dir ein kleines Fläschchen mit einer Kräutertinktur da. Die musst du regelmäßig auf die Wunde geben, damit sie sich nicht wieder entzündet. Wirst du das tun?«
Ich nickte schwach.
Vor lauter Dankbarkeit war ich den Tränen nahe. Wie lange war es her, dass jemand so freundlich zu mir gewesen war? Dann fielen mir die Augen zu.
Als ich wieder erwachte, war der halbindianische Heiler fort. Ich verspürte einen kleinen Stich des Verlusts, der aber von meinem enormen Durst schnell in den Hintergrund gedrängt wurde. Ich erhob mich, um zu dem Wasserbottich zu gelangen und mir eine schöne große Kelle voll zu gönnen. Ein starkes Schwindelgefühl erfasste mich. Ich musste mich an einem Stützbalken der Hütte festhalten. Als ich das ungeschliffene, rissige Holz berührte, erschrak ich zutiefst über das merkwürdige Gefühl in meiner Hand – bevor der Schmerz mich daran erinnerte, dass ich ja nun einen Finger weniger hatte.
Jetzt war ich also verkrüppelt. Ich hatte die Verschleppung, den Transport auf dem Sklavenschiff, die Jahre der Gefangenschaft sowie sechs Schwangerschaften körperlich mehr oder weniger unversehrt überstanden, nur um dann einem Mann in die Hände zu fallen, der mir aus purer Lust am Quälen einen Finger abgehackt hatte. Wahrscheinlich fand der Schinder auch noch, ich müsse ihm dafür dankbar sein, dass er nicht die ganze Hand abgetrennt hatte, was, wie ich mit einem unwilligen Anflug von Bewunderung feststellte, an ein Wunder grenzte. Seine Treffsicherheit war bemerkenswert, denn die anderen Finger hatten nicht den kleinsten Kratzer abbekommen.
Nach ein paar Tagen schon musste ich wieder arbeiten. Ich verrichtete meine Pflichten wie eine Schlafwandlerin. Ich sprach mit niemandem, zeigte keinerlei Gefühlsregung und empfand auch wenig. Mein Herz fühlte sich an, als sei es abgestorben. Vielleicht war das der ideale Geisteszustand, den ich schon vor Jahren hätte erlangen sollen, ging es mir durch den Kopf: wie ein Ochse einfach nur weiterzuarbeiten, nicht nach vorn und nicht nach hinten zu blicken, die Vergangenheit ruhenzulassen und die Zukunft nicht
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