Das Lied des Kolibris
nächstes Mal, denn drei Tage später starb Muhongo. Ich wusste, dass er nur durchgehalten hatte, um mich noch einmal zu sehen und mir seine »Botschaft« zukommen zu lassen. Da der Schinder nicht da war, gestattete man mir, den Leichnam Muhongos zu waschen, ihn in ein Leinentuch einzuwickeln und Gebete für ihn zu sprechen, bevor er in das große Massengrab geworfen wurde, in dem jeden Tag an die zehn Leichname verschwanden. Ich vergoss keine einzige Träne, denn ich wusste, dass er auf dem Weg zu den Ahnen war, wo es ihm besser erginge als hier.
Diesmal musste ich vorsichtiger und raffinierter vorgehen als je zuvor. Wenn man den Stein bei mir fände, würde man mir mindestens die ganze Hand abhacken, wenn nicht gar mich töten. Und sowenig ich den Tod zuvor gefürchtet hatte, so sehr hing ich nun am Leben: Ich hatte eine Mission. Ich würde unseren Sohn finden, ihm sein Erbe aushändigen und ihm somit erlauben, sich die Freiheit zu erkaufen. Denn das war es wohl gewesen, was Muhongo mit seinen letzten Worten gemeint hatte.
Ich dachte tagelang an nichts anderes, als wie ich von dort wegkommen sollte. Natürlich konnte ich, wie ich es schon zuvor getan hatte, einfach fortlaufen. Die Energie und körperliche Kraft dafür hatte ich, auch wenn mich alle schon als Alte betrachteten. Aber was sollte ich tun, wenn ich erst an der Küste angelangt wäre? Ich besaß keine Freilassungspapiere, ich kannte niemanden, der mir würde helfen können, und ich hatte für meinen Lebensunterhalt einzig meine Schmuckstücke, von denen jeder annehmen musste, sie seien gestohlen. Sollte ich versuchen, Nzinga zu finden? Würde ich sie nicht in Gefahr bringen? Wenn es stimmte, dass sie frei und wohlhabend war, dann kannte sie gewiss Mittel und Wege, wie man den Stein zu Geld machte, und bestimmt würde es ihr nicht schwerfallen, meine Anwesenheit zu erklären: »Das ist meine alte Amme«, würde sie den Leuten erzählen können oder etwas in der Art.
Ich ging diese Idee wohl tausendmal im Kopf durch und befand sie für gut. Es würde klappen. Ich wäre mit meinen Kindern wieder vereint und könnte ihnen sogar ein ansehnliches Erbe überreichen, obwohl Muhongo meine Tochter mit keiner Silbe erwähnt hatte. Ja, so wollte ich es machen. Morgen früh, noch vor Sonnenaufgang, würde ich mich fortschleichen.
Doch ich hatte zu lange gewartet.
Am Abend desselben Tages, an dem ich meinen Entschluss fasste, kam der Schinder von seiner Reise zurück. Eine Flucht zu wagen, während er in der Nähe war, kam nicht in Frage. Er würde es fertigbringen, mich einzufangen und zu töten.
Diesmal würdigte er mich keines Wortes oder Blickes. Er hatte sicher längst erfahren, dass mein Mann gestorben und ich zuvor bei ihm gewesen war. Ich wagte schon zu hoffen, dass der Schinder vielleicht doch so etwas wie eine mitleidige Regung empfinden konnte, als ich, zusammen mit sämtlichen anderen Dienstboten, zu einer öffentlichen Auspeitschung zitiert wurde. Zêzé, so der Vorwurf, habe sich der Pflichtvergessenheit schuldig gemacht, was mit zwei Dutzend Hieben geahndet werden sollte. So war das also! Mich verschonte der Schinder nur, weil er diesmal ein anderes Opfer für seine Quälereien auserkoren hatte. Ich fragte mich, ob ein Teil der »Pflichtvergessenheit« auch gewesen war, dass Zêzé mich mit meinem Mann hatte reden lassen, aber ich grübelte nicht allzu lange darüber nach. Ich wollte mir keine Mitschuld geben.
Die Auspeitschung, die der Schinder persönlich vornahm, war kurz, schmerzhaft und tödlich. Zêzé war würdelos gestorben, schreiend und in seinem eigenen Dreck. Es war ein grauenhaftes Spektakel gewesen, und es erfüllte seinen Zweck. Alle Leute des Schinders, ich eingeschlossen, spurten wie selten zuvor.
Ich schmiedete einen neuen Plan. Er nahm ganz langsam Gestalt an, und diesmal erschien er mir unfehlbar. Ich würde den Schinder vergiften – so langsam und qualvoll, wie es nur ging. An giftigen Blumen, Früchten und Wurzeln herrschte kein Mangel. Ich wusste nicht genau, in welcher Zusammensetzung die verschiedenen Gifte ihre tödlichste Wirkung entfalten würden, also beschloss ich, einfach alle Pflanzen gemeinsam zu zerstampfen und den so erhaltenen Brei einzudicken. Ich nahm die frischen Nüsse der Cajú-Frucht, die Blüten und Blätter des Alamanda-Strauchs sowie Blätter von Maniok und Samambaia-Farnen, alles Pflanzen beziehungsweise Teile davon, die praktisch überall wuchsen. Ich zerkleinerte sie in einem Mörser, bis ich
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