Das Lied des Kolibris
ließ. Sie stellte Lampe und Nahrungsmittel auf der Erde ab und fummelte an der Klappe herum. Endlich ließ sie sich kreischend öffnen.
Das Gesicht eines Mannes füllte die gesamte Öffnung aus. Lua benötigte einen Augenblick, bis sie in ihm Zé erkannte. Erschrocken holte sie Luft. Von seiner Schönheit war nicht mehr viel zu sehen. Sein Gesicht war verquollen und zerschunden. Man musste ihn arg in die Mangel genommen haben. Seine Lippen waren aufgeplatzt, desgleichen eine Augenbraue, und auf der Wange eiterte eine scheußliche Schnittwunde. Doch seine Augen funkelten angriffslustig.
»Na, wen haben wir denn da? Die hochnäsige Senhorita aus der Casa Grande«, empfing er Lua.
Deren Mitleid schlug augenblicklich in Zorn um. »Lass mich mit Zeca sprechen!«, forderte sie ihn barsch auf. »Ich habe eine Nachricht für ihn.«
Jetzt, da sich ihre Augen an die Dunkelheit im Innern des Verlieses gewöhnt hatten, erkannte sie, dass die Deckenhöhe darin äußerst gering war. Zé kroch auf allen vieren davon. Sogleich erschien Zecas Gesicht an der Luke. Lua hatte Mühe, das Gesicht zu erkennen, denn er war noch übler zugerichtet als Zé.
»Ki fwa o dimi«, sagte sie ohne großes Theater. Sie wollte sich hier nicht länger als nötig aufhalten.
Er seufzte hörbar auf. »Mwenyu u fwa we!«
»Ist das die Antwort, die ich Maria Segunda überbringen soll? Mwenyu u fwa we?«
»Ja«, schluchzte er. Dann schlug er sich die Hände vors Gesicht. Wahrscheinlich behagte es ihm nicht, dass er vor Lua und seinen Mitgefangenen die Fassung verloren hatte.
»Hier habe ich euch etwas zu essen mitgebracht.« Damit reichte Lua ihm die gestohlenen Delikatessen. »Ich versuche, euch noch mehr zu bringen.«
»Danke«, hauchte er.
»Mwenyu u fwa we?«, versicherte sie sich noch einmal.
»Ja, genau.«
Abrupt schloss Lua die Klappe. Es war ihr unerträglich, dieses Elend länger anzusehen. Außerdem musste sie diesen schrecklichen Ort so zurücklassen, wie sie ihn vorgefunden hatte, damit niemand Verdacht schöpfte. Ihren Rückweg legte sie ungleich schneller zurück als den Hinweg, und zwar so schnell, dass sie beinahe die Weinflaschen der Sinhá Eulália vergessen hätte. In letzter Sekunde fiel Lua ihr Auftrag noch ein. Sie schnappte sich den gewünschten Wein und rannte die Treppe zur Halle hinauf – nur um diese dann verschlossen vorzufinden.
Auch das noch! Lulus kindischer Streich war ihr völlig entfallen.
Sie hämmerte an die Tür und rief, so laut sie konnte. Es schien eine schier endlose Zeit zu vergehen, bis sich endlich jemand erbarmte, die Tür zu öffnen. Lua stöhnte im Geiste auf. Musste es ausgerechnet Dona Ines sein?
»Was treibst du im Keller?«, fragte sie überflüssigerweise, denn die Weinflaschen gaben beredte Antwort. »Und wieso war die Tür verschlossen? Wer hat dich hier eingesperrt, Lua?«, begehrte sie zu wissen.
»Ich weiß es nicht, Dona Sinhá. Bestimmt war es nur ein dummes Versehen.« Sie senkte das Haupt und versuchte, sich einen Anstrich großer Unterwürfigkeit zu geben, was ihr anscheinend misslang.
Dona Ines hob Luas Kinn an und sah ihr forschend in die Augen. »Du brauchst den Übeltäter nicht zu schützen. Das ist wirklich falsch verstandener Gemeingeist unter euch Sklaven.«
Vielleicht hatte sie recht. Dennoch brachte Lua es nicht über sich, Lulu zu verpfeifen. Wenn ihr in der Senzala eines in Fleisch und Blut übergegangen war, dann eben genau jener Gemeingeist. Die Schwarzen hielten zusammen – zumindest gegenüber den Weißen. Dass sie sich untereinander zerfleischen mochten, stand auf einem anderen Blatt.
Lua knickste und sagte betont zerknirscht: »Wenn Ihr erlaubt, dass ich jetzt zur Sinhá Eulália gehe? Sie wartet sicher schon ungeduldig auf diese Flaschen.«
Dona Ines entließ sie mit einem unwirschen Wink, und Lua lief in den Salon, in dem sie ganz richtig die Sinhazinha und ihre Gäste vermutete.
Anschließend begab sie sich in die Küche, um einen Becher Wasser zu trinken, und von dort eilte sie ins Freie. Der lange Aufenthalt im Keller sowie die Begegnung mit den armen Eingekerkerten hatten in ihr ein immenses Bedürfnis nach Sonne und Luft geweckt. Sie hockte sich auf die Stufen am Eingang des Nutztraktes und starrte auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne, als sie plötzlich jemand am Ärmel zupfte.
»Du schreiben weiter Geschichte«, befahl Imaculada. Ein Ausbund an Höflichkeit oder Rücksichtnahme war die Alte gewiss nicht.
Lua war zu schwach, um sich eine
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