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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Senhor und sein jüngster Sohn begaben sich mit Pferden und Hunden auf die Jagd nach Zé, begleitet von ein paar Sklaven, deren Loyalität sie niemals in Frage gestellt hätten.
    Die Frauen blieben daheim. Die Feldarbeiterinnen bekamen, ohne Aufseher und Vorarbeiter, einen freien Tag, während die Haussklaven in der Casa Grande alle Hände voll zu tun hatten. Sie bereiteten Proviantkörbe für die Männer vor, sie umsorgten die beiden Damen des Hauses, die ganz aufgewühlt von den Ereignissen waren, und sie sprachen einander Worte der Aufmunterung zu. Denn natürlich hatte auch sie die Flucht aus der Fassung gebracht. Sie hofften und bangten mit Zé, denn allen war klar, dass er, wenn er eingefangen würde, mit seinem Leben bezahlen musste.
    In der Nacht hatte es stark geregnet. Lua fragte sich, ob dies von Vorteil wäre, weil nun Zés Spuren für die Hunde nicht mehr so einfach zu finden wären, oder ob es vielmehr ein Nachteil war, wie manche Frauen meinten: In aufgeweichter Erde kam man nicht gut voran und ermüdete schnell. Wie alle anderen auch fragte Lua sich außerdem, wie Zé die Hindernisse überwunden hatte, die eine Flucht beinahe unmöglich machten. Hatte er den nächtlichen Marsch durch den Urwald gewagt, Giftspinnen und Riesenschlangen und Jaguare ignorierend? Oder war er über die Ostseite entkommen, wo die starke Brandung des Meeres einen kräftigen Männerkörper an den Felsen zerschellen lassen konnte wie einen morschen Zweig? Beide Vorstellungen waren gleichermaßen beängstigend. Es tat Lua in der Seele weh, ihn in den Klauen eines Raubtieres oder in dem todbringenden Strudel eines Brechers umkommen zu sehen. Je weniger sie an Zé denken wollte, desto mehr machten sich diese üblen Bilder in ihrem Kopf breit. Sie malte sich ein Schreckensszenario nach dem anderen aus, eines grausiger als das vorige, und die Furcht um ihn fraß sie von innen her auf. Sie konnte es einfach nicht verhindern.
    Als bei Sonnenuntergang die Suchtrupps heimkehrten, müde, verschmutzt und unleidlich, weil ihnen kein Erfolg beschieden gewesen war, hörten Luas Wahnvorstellungen nicht etwa auf, nein, sie wurden noch schlimmer. Wenn die Männer Zé nicht gefunden hatten, konnte das doch wohl nur bedeuten, dass er gestorben war, oder nicht? Hatte ihn eine gigantische Würgeschlange zermalmt und anschließend gefressen, ohne einen Fitzel von ihm übrig zu lassen?
    Senhor Felipe und der junge Manuel waren trotz ihrer Erschöpfung sehr redselig. Das Jagdfieber saß ihnen wohl noch in den Knochen. Beim Abendessen erzählten sie so ausführlich von ihrer Suche, dass jeder umgeknickte Grashalm erwähnt wurde, jede Delle im Boden und jede beschädigte Muschelschale am Strand.
    »Wir glaubten schon, wir hätten ihn erwischt«, sagte Senhor Felipe kopfschüttelnd. »Da war ein menschlicher Fußabdruck, und die Hunde waren außer sich, weil sie Witterung aufgenommen hatten. Wir jagten ihnen hinterher, durch die dichteste
mata
, seht nur hier, Ines und Eulália«, dabei zeigte er einen Kratzer am Arm vor, »durch dorniges Gestrüpp und unter tiefhängenden Ästen hindurch, ohne Rücksicht auf uns oder unsere Pferde. Und dann«, hier ließ er die Schultern hängen, »fanden wir nur einen verlassenen Unterstand, in dem vor nicht allzu langer Zeit ein Wilderer gehaust haben muss. Ach, verflucht!«
    »Felipe, mein Lieber, mäßige dich!«, ging die Senhora dazwischen.
    »Was will denn ein Wilderer in unseren Wäldern?«, fragte die Sinhá Eulália.
    »Na, wildern«, erwiderte ihr Bruder.
    »Ja, aber was denn? Seit wann kann man Termiten und Spinnen essen?«
    Lua dachte an das, was Imaculada ihr berichtet hatte, hütete sich jedoch, den Mund aufzumachen.
    »Es gibt in der
mata
auch
capivaras
und
tatus
, die sehr schmackhaft sind. Und außer Wasserschweinen und Gürteltieren gibt es da noch jede Menge Vögel und kleinere Säugetiere, die sich großer Beliebtheit erfreuen.« Manuel wirkte äußerst zufrieden mit sich. »Und Schlangen, so habe ich mir sagen lassen, sollen ebenfalls recht wohlschmeckend sein.«
    Eulália verzog angewidert das Gesicht. »Schon gut, du kleiner Professor. Also ein Wilderer. Vielleicht war es aber auch unser Flüchtling, der sich da den Bauch vollgeschlagen hat?«
    »Bestimmt nicht. Er wird ja kaum ohne Proviant geflohen sein, und in der ersten Nacht dürfte er auch nicht die Muße zu einer ausgiebigen Rast gehabt haben«, warf der Senhor ein. »Wie auch immer: Wir haben alle Nachbarn verständigt, desgleichen die

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