Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
vor, der Bank im Klostergarten. Er hielt den Kopf über ein Papier gebeugt und zeichnete. Mit Betroffenheit stellte Anna fest, dass er sein Handwerk nicht mehr auf dieselbe Weise beherrschte wie vor dem Überfall. Auch wenn sie sich bemühte, ihm nicht zu zeigen, wie sehr die ungelenk wirkende Zeichnung der Rose sie erschreckte, musste Korbinian es ihr angemerkt haben. Wortlos griff er nach der Kreidezeichnung, zerknüllte sie und warf sie achtlos zu Boden.
» Hab Geduld mit dir « , bat Anna sanft und legte ihre Hand auf die seine.
Korbinian entzog sich ihr. » Geduld, Geduld! Dasselbe erzählt mir Bruder Antonius bald jeden Tag. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. « Der Kasten mit den verschiedenfarbigen Kreiden landete neben dem zerknüllten Blatt. » Werde ich jemals wieder etwas Vernünftiges zustande bekommen? «
Mit einem gequälten Stöhnen, das Anna mehr bestürzte als sein plötzlicher Zornesausbruch, verdeckte er das Gesicht mit den Händen. Sie ging neben ihm in die Hocke und strich ihm über den Rücken.
Eine Ewigkeit verharrten die beiden stumm nebeneinander. Nichts war zu hören, außer dem Zwitschern der Vögel im angrenzenden Obstgarten. Dann begann Anna zu erzählen. Von Sebastian und seiner Lehre bei den Kobergers. Von ihrer Arbeit bei den Dürers, deren neuer Köchin Marianne, von Susannes und Georgs Heiratsplänen. Und von Lenchen.
» Unsere Tochter macht das ganze Haus der Dürers unsicher « , lächelte sie, » sie haben alle einen Narren an ihr gefressen. «
Täuschte sie sich, oder leuchteten Korbinians Augen kurz auf? Sie brach ab, er hob eine Hand.
» Erzähl mir mehr von ihr. «
Ein Klosterbruder ging mit einem Korb voll gelber Äpfel an ihnen vorüber. Flüchtig streifte sein Blick das Paar auf der Bank.
» Bitte komm zurück « , bat Anna eindringlich, nachdem sie geendet hatte. » Tu es für Lenchen und für mich. Ich liebe dich, Korbinian! Du bist der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen möchte. Ist das nicht Grund genug? Eines Tages werden deine Erinnerungen zurückkehren. Ich glaube fest daran. «
Lange Zeit war es still zwischen ihnen, und Anna überlegte schon, ob sie ihn allein lassen sollte, da wendete sich Korbinian ihr zu.
» Ich glaube, die Männer in meiner Werkstatt hatten etwas mit Pankratius und der Bruderschaft zu tun, Anna. Letzte Nacht habe ich davon geträumt. Es ging um einen Auftrag, den ich nicht angenommen habe. Was war es nur? « Sein Gesicht rötete sich vor Zorn. » Wenn ich es nur wüsste, verdammt! «
» Beruhige dich, Korbinian. Was immer es gewesen sein mag, diese Leute können uns nicht mehr schaden. Sie sind auf der Flucht und werden sich hüten, sich in der Stadt blicken zu lassen. «
» Das ist wahr « , entgegnete er. » Erzähl mir lieber von uns. «
Sie warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. Nach kurzem Zögern fing sie leise an zu sprechen. Von ihrer Kindheit und Jugend, dem Verlust der Eltern – und von Martin, bis hin zu dem Tag, an dem sie ihn mit seiner frischgebackenen Ehefrau gesehen hatte.
Korbinian hörte schweigend zu.
» Am selben Tag hast du mich in dein Haus gebracht, und ich habe von dir gelernt, wie es ist, bedingungslos geliebt zu werden « , endete Anna ein wenig atemlos.
Nach einer Weile hob er den Kopf. » Ich will dich nicht verletzen, Anna, aber du bist für mich im Augenblick kaum mehr als ein vages Bild aus meinem Gedächtnis. Genau wie unsere Tochter, so, wie ich selbst ein Fremder für mich bin. Ich weiß nicht, ob ich jemals … «
» Eines Tages wirst du wieder ganz gesund sein, glaub mir « , erwiderte Anna mit trockener Kehle. » Bis dahin werde ich dir helfen, dich zu erinnern. «
Korbinians Miene war verschlossen, doch seine Stimme klang fest. » Ich danke dir. Bitte geh jetzt. Ich habe nichts mehr zu sagen. «
Seine Worte hinterließen ein dumpfes Brennen in ihrem Inneren. Sie sammelte sich. » Gut, wenn du es wünschst. Ich lasse dich vorerst allein. Aber ich komme wieder, denn ich habe nicht vor, dich kampflos aufzugeben. « Ihre Stimme versagte.
Er wendete sich ab, und sie sah mit brennenden Augen seiner Gestalt hinterher, die sich ohne ein Wort des Abschieds entfernte.
Anna gab sich alle Mühe, sich nicht von Korbinians abweisendem Verhalten kränken zu lassen und es mit seinem Gemütszustand zu entschuldigen. Allerdings fiel ihr dies von Tag zu Tag schwerer, und an manchen Abenden ertappte sie sich dabei, wie sie immer wieder in Grübeleien versank. Was, wenn Korbinians
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