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Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)

Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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keins ihrer Schäfchen entwischte, abermals zu entgehen? Herr Dietl hatte ihr auf diese Frage geantwortet, sie müsse sich keine Sorgen machen, niemand werde sie mit der neuen Haarfarbe erkennen.
    Anna betrachtete das schlafende Mädchen mit einem Lächeln. Wenn das Köpfchen vertrauensvoll an ihrer Schulter lag, oder Magdalena die pummeligen Ärmchen nach ihr ausstreckte, fühlte sie Wärme in sich aufsteigen. Korbinian Dietl war stets von höflicher Zurückhaltung. Anna wusste nie, was in ihm vorging, denn über private Angelegenheiten sprach er nicht. Dafür arbeitete er wie ein Besessener. Wenn er den Kopf über eins der Bücher gesenkt hielt, die Stirn gekräuselt und die Brille auf die Nasenspitze gerutscht, schien er außer seiner Kunst nichts wahrzunehmen. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, selbst die Kunden, die sich seine Arbeit ansahen oder Preise aushandelten, waren ihm lästig.
    Mit einem Tuch fächerte sich Anna Luft zu. Der Tag schien warm zu werden, bereits am Vormittag war ihre Haut mit einem feinen Schweißfilm bedeckt. Leise trat sie aus der Kammer. Während sie ihrem Tagewerk nachging, kehrten ihre Gedanken zu Martin zurück. Zu ihrem nagenden Kummer gesellte sich – je öfter sie über ihn nachsann – stetig wachsender Zorn. Auf sich selbst, weil sie sich von seinen liebevollen Worten hatte einlullen lassen und weil sie ihm vertraut hatte. Wie hatte sie nur so dämlich sein können? Und auf ihn, dessen hübsche Fassade nur ein oberflächliches und auf seinen eigenen Vorteil bedachtes Inneres verbarg. Konnte sie nicht sogar froh sein, nicht sein Eheweib geworden zu sein? Wer wusste schon, wie lange er seiner Frau letztlich treu war, bis die nächste ihn betörte? Der Gute sollte nicht glauben, dass sie ihm jemals eine Gelegenheit geben würde, sich zu erklären. Monatelang hätte er Zeit dazu gehabt, um ihr von Therese zu berichten. Aber dazu war er wahrscheinlich zu feige gewesen. Verfluchter Mistkerl! Nun war es zu spät, und sie wollte ihn niemals wiedersehen.
    Anna atmete tief durch. Wenn sie erst Sebastian wiedergefunden hatte, würde sich alles zum Besseren wenden. Nach getaner Arbeit und einem vorsichtigen Blick auf das schlafende Kind beschloss sie, Dietl noch eine Weile zuzuschauen. Sie wusste, er hatte nichts dagegen, solange sie ihn nicht störte. Also setzte sich Anna wortlos zu ihm und beobachtete fasziniert, wie durch Dietls Geschick das nächste Kunstwerk entstand. Er sah nicht auf. Sie mochte das Spiel seiner Hände, wenn er den Federkiel über das Pergament huschen ließ und aus einigen Farben, manchmal nur mit winzig kleinen Strichen, eine vorher unerkennbare Form in etwas beinahe Lebendiges verwandelte. Dietls Bilder versetzten sie in Erstaunen. Selbst die großen Initialen, mit denen viele Seiten des Buches begannen und die er mit Ornamenten ausfüllte, waren wunderschön. Zuweilen wünschte sie sich, selbst einen Federkiel halten und eins dieser kostbaren Bücher verschönern zu dürfen. Aber natürlich war dies unmöglich.
    Dietl hatte ihr erzählt, dass es ihn einst viel Zeit und Arbeit gekostet hatte, sich diese Kunst an einer Regensburger Schule für Buchmalerei anzueignen. » Es ist ein Handwerk, Anna. Ein Handwerk, das erlernbar ist. «
    » Ihr meint, für jeden erlernbar? « , hatte sie mit wachsender Begeisterung hervorgestoßen.
    » Für jeden Mann « , war seine Antwort gewesen. » Das Lesen und Schreiben sollte er ebenfalls beherrschen. Wie ich hörte, üben auch einige Nonnen diese Kunst aus, Franziskanerinnen in Köln zum Beispiel. « Seine Miene verdüsterte sich. » Leider wird es unser Handwerk nicht mehr lange geben. Diese Kunst stirbt aus, seit der Buchdruck erfunden wurde. «
    Anna folgte seinem Blick. Ein gutes Dutzend zwischen Holzdeckeln gebundene, mit Leder überzogene Exemplare standen auf einem Regal an der Wand. Bücher besaßen in Annas Augen einen besonderen Zauber. Allzu gern hätte sie die Kunst erlernt, aus den bunt bemalten Seiten und Buchstabenreihen Geschichten und Geheimnisse lebendig werden zu lassen. Im Kloster hätte sie vielleicht eines Tages das Lesen erlernen können, doch erschien ihr der Preis, den sie dafür zahlen müsste, zu hoch.
    Schritte näherten sich und rissen sie aus ihren Träumereien. Sogleich betrat ein älterer Mönch die Werkstatt. Während die Blicke des Klerikers über die Pinsel und Tiegel mit den verschiedenen Zutaten schweiften, aus denen Dietl seine Farben herstellte, erhob sich Anna gesenkten Hauptes von

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