Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
bildete sich eine Gasse zwischen den Schaulustigen. Vereinzelte Jubelrufe wurden laut, andere Zuschauer verharrten in ehrfürchtigem Schweigen, denn die Prozession näherte sich mit dem Heiltumsstuhl. Es waren ausschließlich Kleriker in festlichem Ornat, die jene kostbaren Gegenstände aus der Heiltumsstube des Schopper’schen Hauses herbeitrugen, in der sie von Stadtknechten bewacht die Nacht verbracht hatten. Sebastian reckte den Hals. Die ernst dreinblickenden Männer stiegen auf die erhöhte Bühne, traten an den mit wertvollen Tüchern bedeckten Heiltumsstuhl und stellten die Heiligtümer darauf.
Mittlerweile hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht. Über dem Hauptportal der Frauenkirche schoben sich die Zeiger der großen Uhr auf die Zwölf, im selben Moment öffnete sich darunter ein Türlein. Ein Herold erschien und läutete ein Glöckchen, gefolgt von einer zweiten Figur mit einem Stab in der Hand sowie weiteren Musikanten. Es folgten die sieben Kurfürsten mit den Reichskleinodien in den Händen, die den in ihrer Mitte thronenden Kaiser dreimal umrundeten und ihm dabei huldigten. Karl IV . hatte das kunstvolle Uhrwerk mit den aus Kupfer gefertigten Figuren einst gestiftet. Das alles hatte ihm sein Vater erklärt, als Sebastian noch ein kleiner Junge gewesen war.
» Da ist Elia « , riss die Stimme seines Freundes ihn aus seinen wehmütigen Gedanken. » Lukas Wendel, Ferdinand und ein paar andere sind bei ihm. «
Tatsächlich, nicht weit entfernt erkannte Sebastian den Propheten in Begleitung einiger seiner Männer. Sepp setzte sich in Bewegung, und Sebastian folgte ihm, was angesichts der vielen sich vor dem Podium drängenden Menschen kein leichtes Unterfangen war. Fast hatten die beiden Freunde die Gruppe erreicht, da entdeckte Sebastian ein vertrautes Gesicht in der Menge. Caspar, jener Dieb, der ihn in den Kreis der Obdachlosen aufgenommen und in die Kunst des Beutelschneidens eingeführt hatte. Der Einarmige strebte geradewegs auf Elia zu! Für Beutelschneider war die Heiltumsweisung eine willkommene Gelegenheit, um an ein paar Münzen zu gelangen, denn wer achtete in diesem Getümmel schon auf seinen Geldbeutel? Sepp und Sebastian waren nur noch wenige Schritte von Elia und seinen Anhängern entfernt, und Sebastian fragte sich bang, ob der Dieb ihn erkennen würde . Während er sich hinter dem Freund durch die Menge der Schaulustigen schob, konnte er einen weiteren Blick auf den Beutelschneider erhaschen. Soeben trat Caspar unauffällig hinter Lukas Wendel und zog seine Gnippe hervor.
Im selben Moment fuhr der Gerber herum. » Wen haben wir denn da? Einen Beutelschneider! «
Caspar wich zurück, doch Wendel packte und umklammerte ihn. Der Einarmige wehrte sich nach Leibeskräften, aber gegen die Kraft des Mannes war er machtlos.
» Du miese Ratte! « Wendel holte aus und rammte seine Faust in Caspars Gesicht.
Der verdrehte die Augen und fiel hintenüber. Jemand schrie auf.
Sebastian wollte sich an dem Freund vorbeidrängen, doch Sepp hielt ihn fest. » Misch dich da gefälligst nicht ein « , zischte er an seinem Ohr.
Sebastian machte sich mit einem Ruck frei, schoss vorwärts und ignorierte die wütenden Proteste einiger Umstehender. Einer von Elias Männern beugte sich über den Liegenden und holte abermals aus. Kurz darauf vernahm Sebastian einen dumpfen Schmerzenslaut, der ihm eine Gänsehaut verursachte.
» Lasst ihn los! « , rief er entrüstet aus und blickte um sich.
Ein rüder Stoß von der Seite, und Sebastian geriet ins Straucheln, fing sich aber im letzten Moment.
» He, Kleiner, der Kerl hat die Strafe verdient « , presste Wendel, der plötzlich vor ihm stand, zwischen den Zähnen hervor.
» Genau, macht ihn fertig « , hörte Sebastian die Rufe anderer. Er holte tief Luft und nahm all seinen Mut zusammen. » Aber er hat nichts getan, oder? Lasst ihn gehen. «
Er hatte den Gerber, der sich unvermittelt vor ihm aufbaute und ihn mit verengten Augen maß, bisher eher als einen besonnenen Mann erlebt, doch die unverhohlene Drohung in seiner Stimme trieb ihm Schweißperlen auf Stirn und Nacken. Sebastian wich zurück. Aus den Augenwinkeln konnte er Elia ausmachen, der das Geschehen scheinbar ungerührt verfolgte.
» Komm jetzt « , Sepp zog ihn mit sich, fort von Wendel und Ferdinand.
Im Gehen wendete Sebastian den Kopf zur Seite. Sein Blick fiel auf den zusammengekauerten Dieb, der heftig aus der Nase blutete und sich eine Hand auf den Leib presste, stöhnend,
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