Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
dagegen wirkten befremdlich auf sie, denn der Künstler hatte sie so abgebildet, wie Gott sie schuf. Nicht einmal ein Lendentuch verbarg die Scham der dargestellten Frauen und die Gemächte der Männer.
Sie wandte sich ab, der Maler jedoch, der sich an ihre Seite gesellte, musste die Röte bemerkt haben, die ihr ins Gesicht gestiegen war.
» Stoßt Ihr Euch an der Darstellung des menschlichen Körpers, Frau Dietl? «
» Nun ja, es steht mir ganz gewiss nicht an, etwas an Euren Bildern auszusetzen. «
» Haltet Ihr diese Zeichnungen etwa für etwas Schmutziges? Ich kann daran nichts Anstößiges finden. « Der Maler verschränkte die Arme vor der Brust. » Schließlich hat unser Herr den Menschen so erschaffen, und als er sein Werk vollendet hatte, heißt es in der Heiligen Schrift darüber: ›Und siehe, es war sehr gut.‹ Unser Schöpfer war also zufrieden mit seinem Werk, versteht Ihr? « Dürer ging zur Staffelei zurück.
» Darf ich sehen, woran Ihr zurzeit arbeitet? « , wollte Anna wissen, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
Der Maler wiegte den Kopf. » Wenn Euch die Studien und Skizzen dort schon Anstoß bereiten, solltet Ihr Euch dieses Bild besser nicht … «
Dürer hatte für einen Moment den Blick auf die Leinwand freigegeben, und Anna starrte auf die Darstellung des gekreuzigten Christus. Das Antlitz des Heilands trug die Züge Albrecht Dürers. Sie blinzelte, schloss die Lider und öffnete sie erneut. Der Wunsch, sie hätte sich die Ähnlichkeit nur eingebildet, erfüllte sich nicht. Dürer hatte sich tatsächlich selbst dargestellt. Etwas in ihr wollte sich abwenden, aber sie konnte nicht anders, als das Bild immer wieder zu betrachten. Je öfter sie in das Gesicht des gemarterten Mannes sah, umso heftiger wühlte es sie auf. Liebend gern hätte sie dem Meister gesagt, was sie von dieser Art Selbstdarstellung hielt. Weitaus schlimmer jedoch war ihre Entdeckung, dass der Maler dem sterbenden Gottessohn nicht einmal ein Lendentuch gegeben hatte, wie es üblich war, sondern den Unterleib des Gemarterten in allen Einzelheiten darstellte.
Abrupt wandte sie sich ab, um auf die Tür zuzusteuern, da fasste Agnes Dürer nach ihrem Arm.
» Wartet, liebe Freundin. Ich kann mir denken, was in Euch vorgeht. Glaubt mir, ich war ebenso verstört, als ich dieses Bild zum ersten Mal sah. « Anna presste die Lippen aufeinander und schwieg, während die Frau des Malers weitersprach. » Mein Albrecht ist ein großer Künstler. In vielem ist er seiner Zeit voraus, das erkenne ich immer mehr. Dazu gehört neben den genauen Perspektiven und der detailgetreuen Wiedergabe seiner Motive auch die Darstellung des menschlichen Körpers. Mein Gatte zeigt ihn ohne falsches Pathos, sondern so, wie er tatsächlich beschaffen ist. «
» Frau Dietl, ich hoffe, Ihr habt Euch vom Anblick meines neuen Bildes erholt und beehrt uns dennoch weiterhin. «
» Ich wollte Euch nicht beleidigen, Meister Dürer, verzeiht mir bitte. «
» Das habe ich auch nicht so verstanden. Allerdings muss ich Euch sagen, dass meine Frau und ich uns um Euch sorgen. Hat sie Euch schon etwas aus ihrer Schatulle gegeben? Agnes und ich haben beschlossen, Euch zu unterstützen. «
Sie ergriff Dürers feingliedrige Hände. » Ich danke Euch sehr. Mit Eurer großzügigen Hilfe kann ich mir mit der Suche nach einer Wohnung noch etwas Zeit lassen. «
Agnes Dürer trat neben sie. » Ihr müsst das Haus verkaufen, Anna? «
» Ja, das Haus und die Werkstatt. Aber nun kann es mit etwas Glück bis zum Jänner warten. «
Sebastian kam ihr an der Haustür entgegen. » Du bist spät dran, Anna. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. «
Er nahm ihr Lenchen ab, damit sie sich den Umhang abstreifen konnte, und sie gingen in die Küche.
» Es tut mir leid, mein Lieber. Ich habe unterwegs Frau Dürer getroffen, die mich spontan zu sich eingeladen hat. « Ein Seufzer stieg in ihr auf. » Glaub mir, dort habe ich die besten Lebküchlein gegessen, sie haben nach Honig geduftet und … «
Sebastian bemühte sich um eine strenge Miene, aber das Glitzern in seinen Augen strafte ihn Lügen. » Soso. Auch ich habe Neuigkeiten. «
Anna hängte den feuchten Umhang zum Trocknen nahe dem Kaminfeuer auf und blickte ihren Bruder erwartungsvoll an, während sie sich Lenchen auf den Schoß setzte und ihr die Mütze vom Kopf nahm. » Ich bin gespannt. «
Er gesellte sich zu ihr an den Tisch. » Stell dir vor, ich habe Onkel Gerald getroffen. «
Sie erstarrte. » Wo?
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