Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
Gelegenheit, die bedrückenden Bilder abzuschütteln, die sie noch immer gefangen hielten. Schließlich erhob sie sich steif, legte ein weiteres Holzscheit ins Feuer und setzte sich neben Sebastian.
Als er begann, ihr die Erlebnisse des letzten Jahres zu schildern, entzog er sich ihr, seine Züge waren angespannt und der Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet. » Dir wird nicht gefallen, was du zu hören bekommst. Und solltest du mich danach wegschicken, glaub mir, dann verstehe ich dich. «
» Dich wegschicken? « , lachte sie auf. » Niemals! «
Er nahm einen Schluck aus dem Becher. » Sag niemals nie, Anna. « Seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. » Ich war ein Dieb. Ich habe bei den Obdachlosen geschlafen und eine Weile bei ihnen gelebt. Sie zeigten mir, wie man den Pfeffersäcken die Beutel vom Gürtel schneidet. War gar nicht so schwer. « Sebastian wagte nicht, sie anzusehen. » Dann lernte ich Pankratius, einen selbsternannten Propheten und seine Bruderschaft kennen und bald auch fürchten.«
»… fürchten?«, wiederholte Anna leise. Er nickte und erzählte, was er mit ihnen erlebt hatte.
» Vor ungefähr einer Woche habe ich beim Stadtrat Anzeige gegen die Schweine erstattet. Leider haben sie keine Handhabe gegen diese Kerle, denn sie können ihnen keine Straftaten nachweisen. Ich fürchte, die sind immer noch hinter mir her. Wenn sie mich finden, wird es mir übel ergehen. Diese Leute sind zu allem fähig. «
Anna spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. » Mein Gott, Sebastian! «
Der grinste nur schief und tätschelte ihre Hand. » Du siehst aus, als könntest du Schlaf gebrauchen. Du bist viel zu schmal und zu blass, Schwesterchen. «
» Ja, ich bin tatsächlich sehr müde. Komm, ich zeige dir, wo du nächtigen kannst. «
KAPITEL 29
N ur langsam wich das Gefühl von Anna, der graue Himmel über ihr stehe kurz davor, einzustürzen, um Lenchen und sie unter sich zu begraben. Mittlerweile waren fünf Wochen vergangen, seit sie die Nachricht von Korbinians grausam entstelltem Leichnam erhalten hatte. Allein die Tatsache, dass Sebastian und sie einander wiedergefunden hatten, brachte ein wenig Licht in ihr Leben. Es erschien ihr schlicht wie ein Wunder. Sie hätte so gern mehr über diese Bruderschaft und seine Zeit als Beutelschneider erfahren, wollte jedoch nicht in ihn dringen. Anna dachte sich an die Worte des Beinschnitzers, der Sebastian wegen Diebstahls entlassen hatte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass der Bruder zu solchen Taten fähig wäre. Sie erinnerte sich, wie energisch sie die Anschuldigung des Mannes von sich gewiesen hatte. Aber auch ihr Leben hatte Wendungen genommen, die sie sich noch vor einem Jahr niemals hätte vorstellen können.
Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, zu den schier unlösbaren Problemen. Inzwischen war die Summe von zehn Groschen und zwei Dutzend Pfennigen, die sie in einem hölzernen Kistchen in der Schlafkammer aufbewahrte, bedrohlich geschrumpft. Zu allem Übel hatte Sebastian ihr gestanden, keinen roten Heller zu besitzen.
Anna seufzte, während sie eines Morgens mit Lenchen auf dem Weg zum Großen Markt war, da sie sich dort mit Frau Dürer treffen wollte. » Wir machen einen Einkaufsbummel und danach wärmen wir uns in unserer Stube bei einem großen Becher Würzwein auf « , hatte die Frau des Malers vorgeschlagen. Zuletzt waren sie sich an Allerheiligen begegnet, als Anna die Hauptmesse in St. Lorenz besucht hatte.
Nach dem Kirchgang hatten sie noch beieinandergesessen. Agnes Dürer war das Entsetzen im Gesicht abzulesen, nachdem Anna ihr von Korbinians Tod berichtet hatte. Jedes Wort der Erklärung war Anna unendlich schwer über die Lippen gekommen. Immer wenn sie vom Tod ihres Mannes sprach, erschien es ihr, als wäre es gar nicht ihre Geschichte, nicht ihr Schicksal. Aber kaum betrat sie das stille, dunkle Haus, wurde sie grausam an die Wahrheit erinnert. Die Gerüche der Farben und nach Korbinians Seife hingen noch immer in der Luft, beinahe so, als würde er jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Anna wusste nicht, was sie mehr fürchtete: den Tag, an dem sich diese Gerüche verflüchtigen würden, oder wenn das Haus weiterhin mit seinen typischen Düften seine Anwesenheit bekundete. Einzig Sebastians Anwesenheit ließ das dumpfe Gefühl in ihrem Inneren verblassen.
Die Dürers hatten ihr angeboten, Korbinians Leichnam nach Nürnberg zu überführen und ihn dort ordentlich bestatten zu
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