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Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Titel: Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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wenn sie das richtig einschätzte, auf der gegenüberliegenden Seite des Gefängnisses. Dass der Komplex dermaßen groß war, hätte sie nicht gedacht. Wie viele Menschen mochten in seinem gläsernen Innern den Verstand verloren haben?
    Die Schräge des Daches maß vielleicht drei Meter. Es wurde unten von einem Ziersteg umrandet, vergleichbar mit einem kaum fingerhohen, verschnörkelten Zaun. Wahrscheinlich nicht einmal stabil genug, dass sich eine Katze daran klammern konnte, doch gab es keinen anderen Weg. Sie musste von hier oben hinunter, näher an das viel flachere Dach, das dort drüben im Regen nur verschwommen zu erkennen war. Schon jetzt war sie bis auf die Knochen nass, ihre Finger wurden bereits unbeweglicher von der Kälte. Wenn sie noch länger die Lage überdachte, konnte sie auch gleich wieder ins Innere klettern und sich einen Eispickel durchs Auge hämmern lassen. Nein, niemals! Oder sie sprang, dann würde es wenigsten ihre Entscheidung sein.
    Zuerst schwang Anevay die Beine hinaus. Die Boots legte sie sich um den Nacken, dann drehte sie sich langsam auf den Bauch, griff in die Kante der ausgeschlagenen Schindel und ließ sich vorsichtig, soweit es ging, hinunter. Die Kälte presste sich an ihre Haut, aber noch vor Minuten war Feuer durch sie geflossen, also war das nur ein gerechter Ausgleich. Sie schaute unter sich, versuchte die Distanz zwischen ihren Füßen und dem Ziersteg abzuschätzen, doch ein Meter mehr oder weniger, es war einerlei, also ließ sie los.
    Das Hemd rutschte ihr hoch bis zum Kinn, sie versuchte sofort zu bremsen, doch sie schoss den kurzen Weg geradezu hinab. Ihre Zehen stießen an den kleinen Zaun, der sich verbog, sie kippte nach hinten, ruderte mit den Armen. Eine endlose Sekunde schwankte sie wie eine Seiltänzerin auf der schmalen Kante, dann verlagerte sich der Schwerpunkt wieder zum Dach hin und sie klatschte mit der Wange glücklich dagegen. Ein paar Herzschläge verschnaufte sie, dann breitete sie die Arme aus und tippelte auf dem Steg weiter zur anderen Seite des Turms. Entweder war sie mittlerweile leichter als eine Katze oder wer immer diesen Steg gebaut hatte, war gut gelaunt gewesen an jenem Tag, denn er hielt.
    Als A die andere Seite erreichte und mit blinzelnden Augen hinunter auf das nächste Dach schielte, da wurde ihr bewusst, dass es fast unmöglich sein würde. Das Dach war gut fünf Schritte tiefer gelegen und mindesten ebenso weit von ihr entfernt. Dazwischen klaffte ein Spalt, der erst wieder auf dem Boden der zerschmetterten Tatsachen halt machte. Dieser verdammte Turm stand ab seiner Mitte frei. Doch sie hatte keine Zeit. ›Tue es oder bleib am Boden liegen.‹ Das waren die beiden Optionen. Und Anevay würde niemals am Boden liegen bleiben. Nie wieder!
    Sie ließ sich in die Hocke sinken, immer auf Balance achtend. Griff mit den klammen Händen um den Zierzaun, ein Knie drüber, das andere auch, stützte sich ab, verteilte ihr Gewicht, holte Luft, und dann rutschte sie ein kurzes Stück. Sie schwang hin und her, wobei Fingermanns Stiefel sie am Kinn trafen. Ihre Sehnen in den Unterarmen knirschten. Sofort suchte sie nach einem weiteren Halt für ihre Füße. Da! Nur einen Schritt, etwas versetzt unter ihr in der Turmwand, war der längliche Spalt einer alten Schießscharte, vergittert zwar, aber mit einem Absatz. Wenn sie es schaffte, dort zu landen und sich sofort an das Gitter zu klammern, dann wäre der halbe Weg geschafft. Über ihr verbog sich nun doch der Ziersteg. Also schwang sie ein letztes Mal, öffnete die Hände, sackte ab wie ein Stein, der Spalt rauschte heran. Der linke Fuß glitt ab, doch der rechte fand Halt, ihre Hände griffen zu, als wollte sie mit den Gitterstäben eins werden. A schrie kurz auf, dann lachte sie.
    In einem Theater hätte sie sicher für Gelächter gesorgt, so wie sie da hockte, mit dem Hintern in der Luft. Und vielleicht war das genau der Punkt, sich vorzustellen, dies alles sei nur ein Stück, nichts könne ihr passieren, dort unten waren haufenweise Kissen aufgeschichtet. Gleich würde der Vorhang fallen und alle gingen glücklich nach Hause.
    A schaute hinüber zur anderen Seite. Sie würde abspringen, eine halbe Drehung in der Luft machen und dann die Dachkante erwischen müssen, ohne sich die Knochen dabei zu brechen. Wie die Trapezkünstler in ihren Vorführungen, ganz einfach. Sie konnte aus der Hocke springen, das war gut, weil viel Schwung dabei entstand. Ihr rechtes Handgelenk fühlte sich stärker

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