Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)
versagen, weil dann eigentlich eine Zellenwand kommen müsste. Sie pumpte ihre Lungen mit Sauerstoff voll, Adrenalin strömte in den Körper.
»Hoka Hey, Drecksack«, flüsterte sie. A spurtete los. Ihr Lauf wirbelte Wasser aus den Pfützen hoch, aus den Augenwinkeln nahm sie den Wächter wahr, hörte seine metallischen Krallen, die sich in das Dach gruben. Er lief parallel zu ihr und er holte auf, viel zu schnell, viel zu schnell. Immer wieder verschwand sein hetzender Kupferkörper hinter den Schornsteinen, nur um dann noch näher zu sein. Sie würde es nicht schaffen. Wenn er auf gleicher Höhe war, würde er ihr den Weg abschneiden, kurz vor dem Ziel. Es waren noch etwa fünfzig Meter bis zum Rand des Daches, viel zu weit. Anevays Blut rauschte lauter in ihren Ohren als der Wind. Sie fühlte ihre Beine kaum noch. Plötzlich sprang eine Dachluke vor ihr auf, die Abdeckung schwang nach oben und das Gesicht von Sweeny neben einer Blendlaterne erschien, einen Revolver in der Hand. Er zielte grinsend auf A. Sie lief weiter, wartete auf den Schuss. Doch dann wurde die Luke mit solcher Kraft nach unten gedrückt, dass sie wie ein Fallbeil zufiel, Sweenys Hand samt Revolver blieben abgetrennt davor liegen, ein infernalischer Schrei drang durch die geschlossene Luke. Gleichzeitig wechselte der Kupferwächter die Richtung, nahm Kurs auf sie.
Nur noch zwanzig Meter.
Der Körper des Wächters verschwand hinter dem letzten Schornstein. Auf einmal gab es einen monströsen Knall, als würde Metall schlagartig verbogen, und dann schlitterten die zusammengepressten Überreste des Tieres vor Anevays Füße. Sie stoppte, fassungslos von dem Anblick. Der Wächter war zu Metallmus zerdrückt, der ganze Kopf nur noch eine verbogene Masse. Die Hauer wie bloße Blumenstiele umgeknickt. Der Körper des Monsters zuckte noch einmal, dann war der Zauber gebrochen. Der Regen hinterließ hohle Plings auf dem toten Wesen. Anevay konnte es nicht glauben, doch sie wollte ihr Glück auch nicht überstrapazieren. Sie lief weiter bis zum Ende des Daches. Dort, gar nicht so weit entfernt, stand eine hohe Tanne zwischen Gebäude und Waldrand. Sie lief ein kleines Stück zurück, nahm erneut Anlauf, dann sprang sie und verschwand in der Nacht wie ein dunkler Vogel.
Sie griff in die langen Äste der Tanne, die durch ihre Hände rutschten, einer, noch einer, bis sie keinen Ast mehr fand. Doch der Aufprall kam viel langsamer als sie es für möglich gehalten hätte. Mit einem ›Uff‹ prallte sie ins nasse Gras, verwundert und glücklich zugleich, noch am Leben zu sein. Einige keuchende Atemzüge blieb sie liegen, dann stand Anevay auf und ging.
Es dauerte nicht lange, bis sie eine Hecke und dann noch eine Mauer überwunden hatte. Dann, endlich, hatte sie Fallen Angels hinter sich gelassen.
Anevay hörte einige »echte» Hunde bellen, Rufe wurden laut, ein Schuss wurde abgegeben und Sekunden später erleuchtete eine Signalrakete einen Teil des Waldes und tauchte den Boden in die bizarren Schatten tausender Äste. Aber die Zeit der Angst war vorbei. A lief und lief, auch wenn ihr Zweige das Gesicht zerschnitten, sie stürzte und sie sich Knie und Hände aufschürfte. Sie hatte keinen Dolch im Auge, der sie in eine Wattepuppe verwandeln würde. Was kümmerte es sie also?
Sie wusste nicht, wie lang sie durch die endlosen Stämme irrte, bedacht darauf, wenigstens halbwegs die Richtung einzuhalten. Es zwitscherten bereits einige Vögel, also konnte das erste Tageslicht nicht allzu fern sein. Sie trank aus einem kleinen Bach, aß im Gehen Tannenzapfen und hielt nicht an. Irgendwann stieß sie auf eine Straße, die wie eine Schneise durch den Wald zu verlaufen schien. Die rechte Fahrbahn war sauberer, was bedeutete, dass heute schon mehrere Fahrzeuge diese Richtung genommen hatten und dabei Zweige und Laub des Gewitters in den Straßengraben befördert hatten. Dort ging es zur Stadt zurück, denn wer fuhr schon zu solch einer Tageszeit aufs Land?
Nach einigen Stunden, es wurde immer heller, kletterte Anevay, sich vom Waldrand anschleichend, zwischen die Baumstämme eines Lastwagens, der diese sicherlich in die Sägewerke bringen wollte. Der Fahrer machte eine Pinkelpause, ideal, um sich als blinder Passagier einzunisten. So kauerte sie da, fror und hatte stechenden Harzduft in der Nase, aber dafür ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie würde nach New York zurückkehren. Sie würde ihren Vater suchen und dann würde alles in Ordnung kommen. Zum ersten
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