Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)
an, also würde sie damit nach der Regenrinne greifen. ›Jetzt nicht den Mut verlieren, jede Sekunde, die du wartest, schwemmt der Regen Kraft aus deinen Muskeln.‹Anevay holte tief Luft und sprang.
Sie segelte durch die Luft. Plötzlich wurde alles langsamer. Jeder einzelne Regentropfen passierte sie wie der Faden eines Gewebes, das in all seiner Pracht ausgebreitet dalag. Ihre rechte Hand bewegte sich durch die Nacht, auf ihren Fingern zersplitterten hunderte feiner Tröpfchen, weil der Sprung ihre Bahn kreuzte. Das Dach kam näher, aber mehr wie ein Traum. Anevay wunderte sich über die bizarre Schönheit darin, dann prallte sie mit einer Wucht gegen die Kante, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde. Instinktiv versuchte sie sich festzuhalten, doch da war die Mauer schon wieder fort. Plötzlich fand ihr Fuß unerwartet Stand. Ohne zu überlegen, nahm sie diesen, streckte sich und griff nach der Regenrinne. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Es dauerte einen endlosen Moment, bis sie begriff, dass sie nicht tot war. Mit letzter Kraft zog sie sich hoch, stemmte die Unterarme auf das Dach, erst einen, dann den anderen, hievte sich weiter, bis sie endlich in Sicherheit war. Sie blieb auf den Knien liegen, keuchte, glaubte sich übergeben zu müssen, doch nur der Regen strömte von ihren Lippen. Ihr Verstand wusste, dass sie lediglich eine kleine Etappe geschafft hatte, dennoch fühlte sie sich, als wäre sie seit einem Jahr auf der Flucht. Wankend kam sie auf die Beine. Mit fahrigen Bewegungen zog sie die Stiefel über. Das Leder schmatzte. Sie waren ein wenig zu klein, aber besser, als barfuß weiter zu laufen.
Das Gefängnis war ein achtstöckiger, flacher Bau, übersät mit niedrigen Mauern, Schornsteinen, aus denen zäher Qualm stieg und einigen Dachfenstern, die durch schwere Gitter gesichert waren. A musste einen Weg wählen. Sie entschied sich für den kürzesten. Der Turm stand am Rand der Nordseite des Komplexes, fast in dessen Mitte. Also waren Osten oder Westen an der Seite entlang besser, als das Gebäude noch einmal in seinem ganzen Ausmaß zu überqueren. Osten! Dort schien ein Wald zu sein. Sie kam keine zwei Schritte weit, als sie den fürchterlichen Kupferwächter entdeckte.
Anevay hatte schon Wächter vor dem Fenster von Redbliss gesehen und auch in LaRues Gartenparadies, aber hier? Wer floh schon über das verdammte Dach? Wer schaffte es überhaupt hier herauf? Doch da war er und fletschte seine kupfernen Hauer.
Sie standen da und musterten sich gegenseitig. Für den Wächter musste Anevay so bedrohlich aussehen wie ein Welpe ohne Leine, dafür wirkte der Wächter auf sie, als könne er Eisenholz mit seinem Kiefer zerbeißen. Der schon arg grün angelaufene Körper war dem eines Mastiffs nachempfunden. Diese Art der Kampfhunde war schon im alten Rom eingesetzt worden, kannte keine Gnade, keine Angst. Noch weniger, wenn man sie in Metall goss, ein paar dutzend Muskeln hinzufügte und ihnen die Zähne auf die doppelte Länge formte. Die meisten Wächter taten das, was ihr Name besagte: Sie bewachten. Entweder ihre Erbauer oder deren Auftraggeber. Man wollte Gefangene machen, um sie dann befragen zu können. Doch dieser hier war zum Töten erschaffen worden. Der würde nicht mehr als einen Klumpen blutigen Fleisches von ihr übrig lassen, mit ein bisschen Anstaltskleidung drumherum. Das Ding stand in etwa vierzig Schritte entfernt, halb verdeckt von einem der Schornsteine. Der Rauch kroch über seine mächtigen, verknoteten Schultermuskeln.
Wieder blieb nur der kürzere Weg. Hätte der Wächter in der Mitte gestanden, so wie der Turm, so hätte A keine Chance gehabt, aber er stand viel weiter zum Westrand des Gefängnisses, also hatte sie einen Vorsprung, wenn sie bei Osten blieb und ihr Glück dort versuchte. Doch was dann? Es kam ihr nur eines in den Sinn: Springen. Ob elf oder acht Stockwerke, das Ergebnis würde gleich tödlich sein. Doch sie hoffte, dass der Waldrand nicht zu weit entfernt war oder sie in einen alleinstehenden Baum würde springen können, eine Sickergrube, einen Heuhaufen, was auch immer.
Der Regen prasselte auf ihre Schultern. A lockerte sie, ein Halswirbel knackte, der Wächter knurrte. Sie schob ganz langsam den linken Schuh über das Dach, er rutschte nicht, gut. Im Laufen machte ihr keiner etwas vor. Alles hatten ihre Füße schon berührt, von Wüstensand bis Stadtasphalt. Anevay war schnell. Sie hoffte nur, ihr würden nach sechzehn Schritten die Beine nicht
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