Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
nahm Ser Jarmy dessen Kopf beim Haarschopf. Das Haar rieselte ihm durch die Finger, brüchig wie Stroh. Der Ritter fluchte und stieß mit seinem Handballen nach dem Gesicht. Eine klaffende Wunde seitlich am Hals der Leiche öffnete sich wie ein Mund, verkrustet von trockenem Blut. Nur ein paar helle Sehnen hielten den Kopf noch am Hals. »Es war eine Axt.«
»Aye«, murmelte Dywen, der alte Waldmann. »Wahrscheinlich die Axt, die Othor bei sich trug, M’lord.«
Jon spürte, wie sich das Frühstück in seinem Magen umdrehte, doch presste er die Lippen aufeinander und zwang sich, einen Blick auf die zweite Leiche zu werfen. Othor war ein großer, hässlicher Mann gewesen, und jetzt war er eine große, hässliche Leiche. Eine Axt war nicht zu entdecken. Jon erinnerte sich an Othor. Er war es gewesen, der das zotige Lied gesungen hatte, als die Grenzer ausritten. Seine Sangestage waren nun vorüber. Seine Haut schimmerte weiß wie Milch, überall, bis auf seine Hände. Seine Hände waren schwarz wie Jafers. Blüten von aufgeplatztem, trockenem Blut verzierten die tödlichen Wunden, die ihn wie Hautausschlag überzogen. Doch seine Augen standen offen. Sie starrten zum Himmel hinauf, blau wie Saphire.
Ser Jarmy erhob sich. »Auch die Wildlinge haben Äxte.«
Mormont fuhr ihn an: »Ihr glaubt also, es wäre Manke Rayders Werk? So nah an der Mauer?«
»Wessen sonst, Mylord?«
Jon hätte es ihnen sagen können. Er wusste es, sie alle wussten es, nur wollte keiner der Männer die Worte aussprechen. Die Anderen sind nur eine Geschichte, ein Märchen, das Kindern Angst einjagen solle. Falls sie je gelebt haben, sind sie seit achttausend Jahren tot. Beim bloßen Gedanken daran
kam er sich albern vor. Nun war er ein erwachsener Mann, ein schwarzer Bruder der Nachtwache, nicht mehr der Junge, der einst mit Bran und Robb und Arya zu Füßen der Alten Nan gesessen hatte.
Lord Kommandant Mormont stieß ein Schnauben aus. »Wenn Ben Stark von Wildlingen angegriffen worden wäre, einen halben Tagesritt von der Schwarzen Festung entfernt, wäre er umgekehrt, um Verstärkung zu holen, hätte die Mörder durch alle sieben Höllen gejagt und mir ihre Köpfe gebracht.«
»Es sei denn, er wäre selbst ermordet worden«, beharrte Ser Jarmy.
Die Worte schmerzten, selbst jetzt noch. Es war so lange her und mutete wie eine Narretei an, sich an die Hoffnung zu klammern, dass Ben Stark noch lebte, doch wenn Jon Schnee irgendetwas war, dann stur.
»Es ist nun fast ein halbes Jahr her, seit Ben Stark uns verlassen hat, Mylord«, fuhr Ser Jarmy fort. »Der Wald ist riesig. Die Wildlinge könnten überall über ihn hergefallen sein. Ich vermute, dass diese beiden die letzten Überlebenden seines Trupps waren, auf dem Weg zurück zu uns … aber der Feind hat sie erwischt, bevor sie hinter die sichere Mauer gelangen konnten. Die Leichen sind noch frisch, diese Männer können nicht länger als einen Tag tot sein …«
»Nein«, quiekte Samwell Tarly.
Jon erschrak. Sams nervöse, hohe Stimme war das Letzte, was zu hören er erwartet hatte. Der dicke Junge fürchtete sich vor den Offizieren, und Ser Jarmy war nicht eben für seine Geduld bekannt.
»Ich habe um deine Meinung nicht gebeten, Junge«, sagte Rykker kalt.
»Lasst ihn sprechen, Ser«, platzte Jon heraus.
Mormonts Blick zuckte von Sam zu Jon und wieder zurück. »Wenn der Knabe etwas zu sagen hat, will ich ihn
anhören. Komm näher, Junge. Wir können dich hinter den Pferden nicht sehen.«
Sam schob sich an Jon und den Kleppern vorbei, wobei er heftig schwitzte. »Mylord, es … es kann kein Tag sein, oder … seht … das Blut …«
»Ja?«, knurrte Mormont ungeduldig. »Blut, was ist damit? «
»Er besudelt seine Unterwäsche beim Anblick«, rief Chett aus, und die Grenzer lachten.
Sam wischte den Schweiß von seiner Stirn. »Ihr … Ihr könnt sehen, wo Geist … Jons Schattenwolf … Ihr könnt sehen, wo er die Hand des Mannes abgerissen hat, und doch … der Stumpf hat nicht geblutet, seht …« Er winkte mit einer Hand. »Mein Vater … L-lord Randyll, hat mich manchmal gezwungen, zuzusehen, wenn er Tiere abzog, wenn … nachdem …« Sam schüttelte den Kopf von einer Seite zur anderen, und seine Kinne bebten. Nachdem er die Leichen nun betrachtet hatte, schien er sich nicht abwenden zu können. »Ein frischer Abschuss … das Blut würde noch fließen, Mylords. Später … später wäre es geronnen wie … wie Gelee, dick und … und …« Es sah aus, als würde ihm
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