Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
einen langen Blick zu. »Isst du normalerweise nicht am Tisch bei deinen Brüdern?«
»Meistens«, antwortete Jon mit tonloser Stimme. »Aber heute Abend dachte Lady Stark, die königliche Familie könnte gekränkt sein, wenn sie mit einem Bastard an der Tafel sitzt.«
»Ich verstehe.« Sein Onkel blickte über die Schulter hinweg zu dem erhöht stehenden Tisch am anderen Ende des Saales. »Mein Bruder scheint heute Abend nicht eben in Feierlaune zu sein.«
Das war auch Jon schon aufgefallen. Ein Bastard musste lernen, aufzupassen und die Wahrheit zu erkennen, die Menschen hinter ihren Blicken verbargen. Sein Vater betrachtete den Hof, doch strahlte er eine Anspannung aus, die Jon kaum je bei ihm gesehen hatte. Er sagte wenig, sah sich mit verhüllten Blicken im Saal um, ohne etwas wahrzunehmen. Zwei Stühle daneben hatte der König den ganzen Abend schwer getrunken. Sein breites Gesicht war hinter seinem großen, schwarzen Bart gerötet. Er brachte manchen Trinkspruch aus, lachte laut über jeden Scherz und machte sich wie ein Verhungernder über jede neue Speise her, doch wirkte die Königin an seiner Seite kalt wie eine Skulptur aus
Eis. »Auch die Königin ist böse«, erklärte Jon seinem Onkel mit leiser, ruhiger Stimme. »Vater hat mit dem König am Nachmittag die Gruft besucht. Die Königin wollte nicht, dass er geht.«
Benjen warf Jon einen sorgsamen, musternden Blick zu. »Dir entgeht nicht viel, was, Jon? Einen Mann wie dich könnten wir auf der Mauer gut gebrauchen.«
Jon wollte platzen vor Stolz. »Robb ist besser mit der Lanze als ich, aber ich bin besser mit dem Schwert, und Hullen sagt, ich reite so gut wie kaum einer in der ganzen Burg.«
»Bemerkenswerte Leistungen.«
»Nehmt mich mit, wenn Ihr wieder zur Mauer geht«, sagte Jon, von einer plötzlichen Anwandlung ergriffen. »Vater wird es mir erlauben, wenn Ihr ihn fragt. Ich weiß, er wird es tun.«
Sorgsam betrachtete Onkel Benjen sein Gesicht. »Es ist für einen Jungen auf der Mauer nicht leicht, Jon.«
»Ich bin fast schon ein erwachsener Mann«, protestierte Jon. »An meinem nächsten Namenstag werde ich fünfzehn, und Maester Luwin sagt, Bastarde wachsen schneller als andere Kinder.«
»Das mag stimmen«, sagte Benjen mit herabgezogenen Mundwinkeln. Er nahm Jons Becher vom Tisch, schenkte aus dem Krug nach, der ihm am nächsten stand, und trank mit einem langen Zug.
»Daeron Targaryen war erst vierzehn, als er Dorne eroberte«, erklärte Jon. Der Junge Drache war einer seiner Helden.
»Eine Eroberung, die nur einen Sommer Bestand hatte«, erklärte sein Onkel. »Dein Kindkönig hat zehntausend Mann verloren, um es einzunehmen, und weitere fünfzigtausend, um es zu halten. Jemand hätte ihm sagen sollen, dass der Krieg kein Spiel ist.« Er nahm noch einen Schluck Wein. »Außerdem«, sagte er und wischte sich den Mund, »war Daeron Targaryen erst achtzehn, als er starb. Oder hast du den Teil schon vergessen?«
»Ich vergesse nie etwas«, prahlte Jon. Der Wein verlieh ihm Kühnheit. Er versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, um größer zu wirken. »Ich möchte in der Nachtwache dienen, Onkel.«
Er hatte lange und ausgiebig darüber nachgedacht, nachts wenn er im Bett lag, während seine Brüder schliefen. Robb würde eines Tages Winterfell erben, würde als Wächter des Nordens große Armeen befehligen. Bran und Rickon wären Robbs Vasallen und würden in seinem Namen über Festungen herrschen. Seine Schwestern Arya und Sansa würden die Erben anderer großer Häuser heiraten und als Herrscherinnen über ihre eigenen Burgen in den Süden ziehen. Doch welches Erbe konnte sich ein Bastard erhoffen?
»Du weißt nicht, worum du mich bittest, Jon. Die Nachtwache ist eine verschworene Bruderschaft. Wir haben keine Familien. Keiner von uns wird jemals Söhne zeugen. Unser Weib ist die Pflicht. Unsere Geliebte ist die Ehre.«
»Auch ein Bastard kann Ehre haben«, sagte Jon. »Ich bin bereit, Euren Eid abzulegen.«
»Du bist ein Junge von vierzehn Jahren«, sagte Benjen. »Kein Mann, noch nicht. Bevor du nicht eine Frau gehabt hast, kannst du nicht verstehen, worauf du verzichten würdest. «
»Das ist mir egal!«, widersprach Jon böse.
»Das wäre es vielleicht nicht, wenn du wüsstest, was es bedeutet«, sagte Benjen. »Wenn du wüsstest, was der Eid dich kostet, wärst du kaum so begierig, den Preis dafür zu zahlen, mein Sohn.«
Jon spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. »Ich bin nicht Euer Sohn!«
Benjen Stark stand auf.
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