Das Lied von Eis und Feuer 6 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 6 - A Storm of Swords. Book Three of A Song of Ice and Fire (2)
Tyrions Blick dem des Jungen. Er hat Jaimes Augen. Nur hatte er Jaime noch nie so voller Furcht gesehen. Der Junge ist erst dreizehn. Joffrey gab ein trockenes Krächzen von sich, wollte etwas sagen. Seine Augen quollen weit aufgerissen vor Grauen hervor, und er hob die Hand … griff nach seinem Onkel oder zeigte auf ihn … Will er meine Vergebung, oder glaubt er, ich könnte ihn retten? »Neiiin«, schrie Cersei, »Vater hilf ihm, hilft ihm denn niemand, mein Sohn, mein Sohn …«
Plötzlich musste Tyrion an Robb Stark denken. Im Rückblick betrachtet war meine Hochzeit doch nicht so übel. Er drehte sich um, um zu sehen, wie Sansa den Vorfall aufnahm, doch in dem Durcheinander konnte er sie nicht entdecken. Dafür fiel sein Blick auf den Hochzeitskelch, der vergessen auf dem Boden lag. Er ging hin und hob ihn auf. Ein halber Zoll dunkler Wein von tiefvioletter Farbe stand noch darin. Tyrion überlegte kurz, dann goss er ihn auf den Boden.
Margaery Tyrell weinte in den Armen ihrer Großmutter, derweil die alte Dame sagte: »Sei tapfer, mein Kind, sei tapfer.« Die meisten Musikanten waren geflohen, nur ein letzter Flötenspieler auf der Galerie hatte ein Trauerlied angestimmt. Im hinteren Teil des Thronsaals waren Rangeleien an den Türen ausgebrochen, die Gäste trampelten sich gegenseitig nieder. Ser Addams Goldröcke kamen herein, um die Ordnung wiederherzustellen. Überstürzt flohen die Gäste in die Nacht hinaus, manche weinten, manche taumelten und würgten, manche waren kreidebleich vor Angst. Langsam dämmerte es Tyrion, dass er selbst vielleicht ebenfalls verschwinden sollte.
Als er Cerseis Schrei hörte, wusste er, dass es vorbei war.
Ich sollte verschwinden. Sofort. Stattdessen watschelte er auf sie zu.
Seine Schwester saß in einer Weinlache und wiegte den Leichnam ihres toten Sohnes in den Armen. Ihr Kleid war zerrissen und voller Flecken, ihr Gesicht kalkweiß. Ein magerer schwarzer Hund kroch neben ihr heran und schnüffelte an Joffreys Leiche. »Der Junge ist tot, Cersei«, sagte Lord Tywin. Er legte seiner Tochter die behandschuhte Hand auf die Schulter, während eine seiner Wachen den Hund verscheuchte. »Lass ihn los. Lass ihn gehen.« Sie hörte ihn nicht. Zwei Mann der Königsgarde waren notwendig, um ihre Finger zu lösen, dann glitt die Leiche König Joffrey Baratheons schlaff und leblos zu Boden.
Der Hohe Septon kniete neben dem Toten nieder. »Vater, urteile gerecht über unseren guten König Joffrey«, begann er das Totengebet. Margaery Tyrell schluchzte, und Tyrion hörte ihre Mutter Lady Alerie sagen: »Er ist erstickt, Liebes. Er ist an der Pastete erstickt. Du konntest nichts dafür. Er ist erstickt. Wir haben es alle gesehen.«
»Er ist nicht erstickt.« Cerseis Stimme war so scharf wie Ser Ilyns Schwert. »Mein Sohn wurde vergiftet.« Sie blickte zu den weißen Rittern auf, die hilflos um sie herumstanden. »Königsgarde, erfüllt Eure Pflicht.«
»Mylady?«, fragte Ser Loras Tyrell unsicher.
»Nehmt meinen Bruder in Gewahrsam«, befahl sie ihm. »Er hat das getan, der Zwerg. Er und sein junges Weib. Sie haben meinen Sohn getötet. Euren König. Ergreift sie! Ergreift sie beide!«
SANSA
Auf der anderen Seite der Stadt begann eine Glocke zu läuten.
Sansa fühlte sich wie in einem Traum gefangen. »Joffrey ist tot«, sagte sie zu den Bäumen, um zu sehen, ob sie davon aufwachen würde.
Als sie den Thronsaal verlassen hatte, hatte er noch gelebt. Allerdings hatte er auf den Knien gelegen, seine Kehle umklammert und sich bei dem Versuch zu atmen die eigene Haut aufgerissen. Der Anblick war zu schrecklich für sie gewesen, deshalb hatte sie sich umgedreht und war schluchzend geflohen. Lady Tanda war ebenfalls davongelaufen. »Ihr habt ein gutes Herz, Mylady«, sagte sie zu Sansa. »Nicht jedes Mädchen würde um einen Mann weinen, der sie verstoßen und mit einem Zwerg verheiratet hat.«
Ein gutes Herz. Ich habe ein gutes Herz. Hysterisches Gelächter stieg in ihrer Kehle empor, doch Sansa würgte es wieder hinunter. Die Glocken läuteten langsam und traurig. Läuteten, läuteten, läuteten. Für König Robert hatten sie genauso geläutet. Joffrey war tot, er war tot, er war tot, tot, tot. Warum weinte sie, obwohl sie am liebsten getanzt hätte? Waren es Freudentränen?
Sie fand ihre Kleider an der Stelle, wo sie sie in der vorgestrigen Nacht versteckt hatte. Ohne die Hilfe ihrer Zofen brauchte sie länger als ihr lieb war, um die Schnüre ihres Kleides zu öffnen.
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