Das Lied von Eis und Feuer 6 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 6 - A Storm of Swords. Book Three of A Song of Ice and Fire (2)
sich weigerte, das Gelübde zu sprechen. Sie war keine Bettlerin, gleichgültig, was ihre Tante behauptete. Sie war dreizehn, eine erblühte, verheiratete Frau und Erbin von Winterfell. Sansa empfand manchmal ein wenig Mitleid für ihren kleinen Vetter, doch sie konnte sich nicht vorstellen, ihn jemals ehelichen zu wollen. Lieber wäre ich wieder mit Tyrion vermählt. Wenn Lady Lysa das herausfand, würde sie Sansa bestimmt fortschicken, fort von Roberts Schmollmund, Schüttelkrämpfen und Triefaugen, fort von Marillions lüsternen Blicken und Petyrs Küssen. Ich werde es ihr sagen. Bestimmt!
Am späten Nachmittag rief Lady Lysa sie zu sich. Sansa hatte den ganzen Tag über all ihren Mut gesammelt, doch sobald Marillion an der Tür erschien, befielen sie wieder Zweifel. »Lady Lysa wünscht Eure Gegenwart in der Hohen Halle. « Der Sänger zog sie mit den Augen aus, während er sprach, doch daran hatte sie sich inzwischen gewöhnt.
Marillion sah hübsch aus, das konnte man nicht leugnen, jungenhaft und schlank und mit glatter Haut, rotblondem Haar und einem gewinnenden Lächeln. Trotzdem hatte er sich außer ihrer Tante und dem kleinen Lord Robert jeden im Grünen Tal zum Feind gemacht. Wenn man sich die Dienstboten anhörte, war Sansa nicht das erste Mädchen, das unter seinen Nachstellungen zu leiden hatte, und die anderen hatten keinen Lothor Brunn gehabt, der sie verteidigt hätte. Dennoch wollte Lady Lysa keine Beschwerden über ihn hören. Seit seiner Ankunft auf der Ehr war der Sänger ihr Liebling. Jede Nacht sang
er Lord Robert in den Schlaf und verspottete in seinen Liedern die Freier der Lady Lysa, indem er ihre Schwächen offenlegte. Ihre Tante hatte ihn mit Gold und Geschenken überhäuft, mit kostbaren Gewändern, einem goldenen Armreif, einem Gürtel, der mit Mondsteinen besetzt war, einem schönen Pferd. Sogar den Lieblingsfalken ihres verstorbenen Gemahls hatte sie ihm überlassen. All das hatte dazu geführt, dass sich Marillion in Gegenwart von Lady Lysa stets vollendet höflich benahm, in ihrer Abwesenheit dagegen ebenso vollendet arrogant auftrat.
»Danke«, erwiderte Sansa steif. »Ich kenne den Weg.«
Er wollte ihr nicht von der Seite weichen. »Mylady hat gesagt, ich soll Euch zu ihr bringen.«
Mich bringen? Das klang überhaupt nicht gut. »Seid Ihr jetzt ein Mann der Wache?« Kleinfinger hatte den Hauptmann der Wache von Hohenehr entlassen und Ser Lothor an seine Stelle gesetzt.
»Müsst Ihr denn bewacht werden?«, gab Marillion abschätzig zurück. »Ich dichte gerade ein neues Lied, solltet Ihr wissen. Ein Lied so süß und traurig, dass selbst Euer gefrorenes Herz schmelzen wird. ›Die Ros’ am Wegesrand‹ werde ich es nennen. Über ein Mädchen von niederer Geburt, das so schön ist, dass es jeden Mann bezaubert, der sie anblickt.«
Ich bin eine Stark von Winterfell, hätte sie ihm am liebsten gesagt. Stattdessen nickte sie nur und ließ sich von ihm die Turmtreppe hinunter und über eine Brücke führen. Die Hohe Halle war die ganze Zeit über verschlossen gewesen, seit sie auf Hohenehr eingetroffen war. Sansa fragte sich, warum ihre Tante den Saal geöffnet hatte. Für gewöhnlich bevorzugte sie die Behaglichkeit ihres Solars oder die gemütliche Wärme von Lord Arryns Audienzzimmer mit dem Blick auf den Wasserfall.
Zwei Wachen in himmelblauen Mänteln mit Speeren in der Hand flankierten die mit Schnitzereien verzierten Türen der Hohen Halle. »Niemand darf eintreten, solange Alayne bei Lady Lysa ist«, befahl Marillion ihnen.
»Jawohl.« Die Männer ließen sie passieren und kreuzten dann die Speere. Marillion schloss die Türen und verriegelte sie mit einem dritten Speer, der länger und dicker war als die der Wachen.
Sansa verspürte ein unbehagliches Kribbeln. »Warum habt Ihr das getan?«
»Mylady erwartet Euch.«
Sie blickte sich unsicher um. Auf dem Podest saß Lady Lysa allein auf einem hochlehnigen Stuhl aus geschnitztem Wehrholz. Zu ihrer Rechten stand ein zweiter Stuhl, höher als ihr eigener, auf dem ein Stapel aus blauen Kissen lag, doch Lord Robert war nicht da. Sansa hoffte, er habe sich inzwischen erholt, doch Marillion würde es ihr gewiss nicht erzählen.
Sansa ging über den blauen Seidenteppich zwischen den geriffelten Säulen, die schlank wie Lanzen waren. Boden und Wände der Hohen Halle bestanden aus milchweißem Marmor mit blauen Adern. Schräg fiel das helle Tageslicht durch die schmalen Bogenfenster in der Ostwand ein. Zwischen den Fenstern
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