Das Limonenhaus
beobachtete, wie sie die Augenbrauen zusammenzog und die dünne Haut ihres faltigen Gesichts dabei noch mehr Falten schlug.
»Aber wir hatten ja schon die sechziger Jahre«, sagte sie jetzt. »Die Mädchen liefen schon in Miniröcken herum, also in Palermo jedenfalls!«
Meine Mutter hatte sicher keinen Minirock getragen. Ich stand auf, stellte die Tasse auf ein Beistelltischchen und schaute mir die Fotografien an, die in silbernen Rahmen auf einer antiken Anrichte standen.
Obwohl ich nicht ein einziges Foto aus ihrer Jugend kannte, entdeckte ich sie sofort. Ich nahm das Bild in die Hand. Meine Mutter schaute in die Kamera, ihre Haare waren zu einem lockeren Knoten frisiert, Rock bis zu den Knien, Strickjacke, dazu flache Ballerinas, die gerade wieder modern waren. Sie hielt ein Eis in der einen Hand, der andere Arm hing locker herab. Ihr Lachen bekümmerte mich mehr als alles, was ich bis jetzt über sie erfahren hatte. Es war herrlich selbstsicher und ein wenig frech.
»Ja, das ist sie, die Maria! Sie tat mir so leid!«
»Warum hat sie ihn nicht angezeigt?« Meine Frage kam mir dumm vor. Die Sizilianer redeten seit Hunderten von Jahren nicht gerne mit der Polizei. Warum sollte also gerade meine Mutter diese Tradition brechen? »Aber das hatte
wahrscheinlich überhaupt keinen Sinn«, setzte ich schnell hinzu.
»Nein. Ja.« Meine Großtante suchte nach ihrer Brille, die auf ihrem Schoß lag. »Es war ja nun so: Die Familie des Mädchens versuchte, es geheim zu halten, man schämte sich, man ging nicht zur Polizei. Wenn es dennoch herauskam, wurde derjenige, der es getan hatte, angeklagt, und zwar vom Staat. Doch da gab es das Gesetz, das die matrimonio riparatore vorsah, die alles wieder aufhob. Maria hätte ihn anklagen müssen, sie hätte den Prozess durchstehen und sich zudem noch gegen das Gesetz und die allgemeine Moral wehren müssen. Sie wollte es nicht, und die Pina hat ja nie etwas gemacht, was ihre Mariuccia nicht wollte...«
»Die Heirat, die repariert? Was soll das genau heißen?«
»Das Gesetz besagte, dass ein Mädchen die Verurteilung des Angeklagten aufheben konnte, und zwar durch die Einwilligung in eine Heirat.«
»Ihren Vergewaltiger!? Das war legal?«
»Aber ja! Und das haben alle gemacht. Denn nur dadurch konnte das Mädchen ihre Schande und die ihrer Familie reinwaschen.«
Ich war wütend. Was für ein perfides Zugeständnis:... er hat mich zwar vergewaltigt, aber eigentlich war es nur ein etwas grob geratener Heiratsantrag, Euer Ehren, mehr nicht...
Was für eine Qual, was für eine Lüge. Und das alles nur wegen der Ehre! Wie hatte Signora Pollini es ausgedrückt? Das Mädchen hätte sonst immer diesen Ruf behalten. Den einer Hure!
»Ein anderes Mädchen hat es dann gewagt, drüben in der Provinz Trapani, in Alcamo. Das muss im selben Jahr gewesen sein, 1965. Franca Viola, gerade achtzehn. Die hat sich
als Erste gegen das Gesetz gewehrt und hat die Schmähungen ausgehalten, mit denen alle über sie hergefallen sind. Ihr Vater und ihre ganze Familie hat sie unterstützt. Elf Jahre hat der Typ bekommen. Seine Freunde, die ihm geholfen haben, sind auch ins Gefängnis gewandert. Die Franca ist richtig berühmt geworden, es war groß in den Zeitungen. Danach haben sich immer mehr Frauen getraut, einer erzwungenen Heirat nicht mehr zuzustimmen. Das Gesetz ist übrigens erst im Jahre ’81 abgeschafft worden.«
Zia Pinas Schwester schüttelte sich. »Ach, die Zeiten früher, lassen wir das. Machen mich ganz schwermütig. Komm her, Mädchen, lass dich lieber noch mal anschauen!« Ich ging zu ihr und nahm ihre Hand. Sie war trocken und kühl.
»Im Casa dei Limoni habt ihr gewohnt! Dein Bruder und die Grazia, und eine ganze Zeit lang auch du. Ich hab das gewusst, natürlich, man hat mir alles erzählt, was die jungen Leute da machen.«
»Warum haben Sie das Limonenhaus nicht haben wollen?«
»Ach, ich war glücklich hier, mein Mann, Gott habe ihn selig, hat uns dieses schöne Haus gebaut. Ein Gezerre und Gezurre war’s, weil die Maria ja nie von der Pina adoptiert worden ist. Ein Durcheinander, das Jahre dauerte. Ich habe es dann am Ende abgelehnt, der Avvocato ist schier verrückt geworden. Aber der war ja immer feucht, der Kasten, so direkt am Meer. Außerdem glaube ich, dass das Haus kein Glück für den bringt, der in ihm wohnt! Und wenn es für die Maria ein bisschen Geld abwerfen würde, auch gut, habe ich gedacht.«
Lag es wirklich am Limonenhaus? War das Schicksal meiner
Weitere Kostenlose Bücher