Das Limonenhaus
mir gefallen. Ganz ruhig, aber mit so einer Spannung, jederzeit konnte sie loslegen, den ersten Strich tun. Ich hatte mir das Limonenhaus gerade von außen angeschaut und bin danach rein, habe oben die Fenster geöffnet. Ich habe mich sogar auf den Balkon getraut, nur um zu sehen, ob sie noch da unten auf den Steinen sitzt, mit ihrem leeren Block. Saß sie aber nicht. Ich war richtig wütend auf mich. Warum hatte ich sie nicht angesprochen? Du weißt, ich rede sonst mit jedem, wenn ich
will, mit Alten und Kindern und Verrückten und Betrunkenen, mit Männern und Frauen. Und gerade bei ihr werde ich auf einmal schüchtern? Und dann sehe ich sie hier, mitten in der Kalsa wieder. Sie war alleine, keine Mutter, keine Freundin, und sie wohnte ja nicht einmal hier, sie war aus Bagheria gekommen.«
Leonardo hatte sich überwältigt die Stirn gerieben, als könne er sein Glück immer noch nicht fassen.
»Ich habe mir geschworen, ich werde sie nie fragen, was sie hier überhaupt zu tun hatte«, seufzte er. »Ich war völlig weg, gab ihr nur stumm die Hand und dachte nicht an den Sardellengeruch, der daran haften musste. Und sie nahm sie, und ich fragte mich, wer wohl dafür gesorgt hatte, dass wir uns begegnen. Ich meine, Palermo hat fast eine Million Einwohner - ist doch verrückt, oder?«
»Aber echt!«, hatte ich geantwortet und meine Mundwinkel gezwungen zurückzulächeln. Denn während wir dort auf der Gasse standen, schnitt sich die Gewissheit waagerecht und scharf wie ein Filetiermesser durch meine Gedanken: Er wird nie zurück nach Köln kommen. Die Reiserei ist vorbei. Seine Wege kreuz und quer durch die Welt enden hier in der Kalsa. Ich habe ihn erst an die Kocherei, dann an Sizilien und am Ende an Grazia verloren.
Mit »verloren« hatte ich natürlich gemeint, dass Leonardo für immer auf Sizilien bleiben, dass er dort leben würde. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sein Leben wirklich in diesem Viertel enden würde, dass er zwei Jahre später so grauenhaft im La Sirena verunglücken sollte.
Mein Herz machte einen Satz, endlich, da kam er! Er trug denselben schlampig-schicken Kurzmantel wie gestern.
Plötzlich ging das Atmen besser, und meine Augen sahen ihn noch einmal so, wie er eben im Hotelzimmer vor mir gestanden hatte. Sein Brusthaar hatte die Form von Afrika, ein hübsches, wuschiges Afrika.
Na, fantastisch! Anstatt mir zu überlegen, wie ich Matildes Entführung organisieren sollte und wie ich diesen Fotografen dazu bringen konnte, mir zu helfen, dachte ich an seinen Körper. Die Fototasche schief umgehängt, ein schwarzes, zusammengeschobenes Stativ in der Rechten, rollte er seinen Koffer heran. Er wollte doch nicht schon wieder abreisen? Musste er nicht noch diese Villa fotografieren?
Sein Fotografenblick sprang unruhig über mein Tischchen hinweg, flüchtete nach draußen, über die Straße, auf das Baugerüst und die geschwärzte Fassade des Hotels gegenüber. So würde ich es nie fertigbringen, ihn um Hilfe zu bitten. Gab es denn niemanden, den ich an seiner Stelle fragen konnte? Schließlich hatte ich länger als ein Jahr in Porticello gewohnt. Ich überlegte erneut, aber mir fiel niemand ein. Zu den Menschen, die ich durch Leonardo kennengelernt hatte, hatte ich keinen Kontakt mehr. Manche waren inzwischen weggezogen, andere hatten Kinder bekommen und sich nie mehr gemeldet oder waren, wie zum Beispiel Marta, durch Leonardos Tod übermäßig freundlich und verlegen. Ich hatte alle Telefonnummern weggeworfen und war unauffindbar geworden. Außer für Claudio, der mich seit gestern mit Nachrichten auf meinem Handy bombardierte und tatsächlich an diesem Morgen in aller Herrgottsfrühe vor der Bar al Porto gestanden hatte. War das Zufall? Woher wusste der, was ich tat? »Lella, aspetta!«, hatte er gerufen, und bei diesem ﹥Lella, warte﹤, hatte sich etwas in mir zusammengekrümmt. Schlagartig wusste ich wieder, wie es sich
angefühlt hatte, als meine Verliebtheit zu ihm innerhalb weniger Tage zu etwas Leblosem verkümmert war. Wie ein Büschel gelbes Gras, das zu lange von einer Steinplatte zerdrückt worden war und sich nie wieder aufrichten würde.
Claudio hatte noch weiter auf mich eingeredet, doch ich hatte ihn ignoriert und war ins Taxi gestiegen. Der sollte mir nicht helfen, der nicht! Der sollte seine Klappe halten und sich in seine Kanzlei verziehen, wo er den Leuten für jede Unterschrift das Geld aus der Tasche tricksen konnte. Phil stellte sein Gepäck neben meinen Tisch auf den
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