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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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einfallen würden, warum nicht auch heiraten? Ich war mir nicht sicher ˿ sicher war bei Brigida nie etwas. Ich stand auf, ging zum Fenster und
guckte in das Gewirr von Blättern, Knospen und hohen Gräsern.
    Lella. Wo war sie jetzt wohl?
    Ich sah ihren Körper vor mir, biegsam und ›anmutig‹, ein treffenderes als dieses antiquierte Wort fiel mir für sie nicht ein. Wie eine Tänzerin, die soeben die Bühne betritt, ging sie eine Straße entlang. Ihre Haut war so glatt, ich hatte mich beim Frühstücken beherrschen müssen, meine Augen nicht dauernd auf ihren Wangen und ihrem Hals ruhen zu lassen.
    Ich setzte mich ans Fußende des Bettes. Die wenigen Sätze, mit denen Lella gestern ihr Leben beschrieben hatte, beschäftigten mein Hirn. Sie hatte ihren Bruder sehr geliebt, kein Wunder, Zwillinge hatten angeblich einen ganz besonderen Draht zueinander, das war bekannt. Warum hatte der Bruder sie vor die Tür gesetzt? Vielleicht hatte sie einen Freund mitgebracht, und der Bruder hatte etwas dagegen gehabt, dass der Freund mit ihr ins Bett ging? Bestimmt, das war doch in sizilianischen Familien so. Eifersucht wallte in mir hoch. Ich hätte auch etwas dagegen gehabt, ich durfte nicht darüber nachdenken. Lella sollte keine Männer haben, niemand sollte mit ihr... Wie naiv von mir! Natürlich war sie keine Jungfrau mehr, sie war immerhin schon sechsundzwanzig. Selbst mit den allerstrengsten sizilianischen Eltern und Brüdern würde sie in diesem Alter einige körperliche Kontakte... Körperliche Kontakte? Ich wollte sie ausziehen, sie am ganzen Körper küssen, mit ihr schlafen...
    Ich schaute auf und merkte, dass Matilde schon die ganze Zeit mein Gesicht beobachtete, mit einem Blick, als wäre ich stupido! Dumm, ich war dumm, stupido. Stupido, das Wort gefiel mir.
    »Hallo! Ciao!«

    Wie weiter? Was sagte man auf Italienisch zu einem Kind, das gerade aufwachte und einen wie ein trauriger Maharadscha anschaute?
    »Come stai?« Wie geht es dir?, das passte. Ich zeigte an meinen Kopf und rieb ihn, als ob er wehtäte. Ohne das Gesicht zu verziehen, schloss Matilde ihre Augen, an ihrem Atem merkte ich, dass sie Sekunden später tatsächlich wieder eingeschlafen war. Das war auch eine Antwort.
    Ich saß regungslos, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch länger. Das Zimmer beruhigte mich. An den weißen Wänden hing kein einziges Bild, auch der dunkle Kleiderschrank störte meine Gedanken nicht. Der Stuhl und die Nachttischchen hatten dieselbe Farbe wie die sechs rotbraunen Deckenbalken, die dunkelgelbe Tagesdecke war ordentlich über die Hälfte des Bettes gezogen. Alles war angenehm einfach.
    Ich stand leise auf, ging auf die Veranda und stellte mich in die warme, salzige Luft. Hier war ich also, mit beiden Füßen auf Salina! Alles, auch das Vulkangestein und die Schreie der Möwe dort oben am Himmel, gehörte zu Brigidas Heimat! Doch in mir rührte sich nichts. Ich konnte mir Brigida als kleines Mädchen nicht vorstellen, ich hatte sogar Mühe, mich an ihr derzeitiges Gesicht zu erinnern. Ich suchte den Horizont ab. In welcher Richtung lag Düsseldorf? Ich hatte keine Orientierung, wusste nicht, wo Norden war, und auf einmal fühlte ich mich müde. Ich benötigte Ferien, ganz dringend. Ferien von der Angst, nicht amüsant genug zu sein, nicht dramatisch genug, nicht einzigartig... Wie anstrengend mein Leben mit ihr war!
    Wer war diese Frau in Deutschland?, fragte ich mich. Was glaubte ich denn, in ihrem Elternhaus, im Gesicht ihrer
Mutter und dem ihres Vaters zu finden? Sie würden ihr in einer bestimmten Art und Weise ähnlich sehen und gleichzeitig gar nichts mit ihr zu tun haben. Ich würde nicht verstehen, was sie sagten, geschweige denn, wer die Frau war, die ich heiraten wollte.
    Ich ging in die Küche und kontrollierte mein Handy. Keine weiteren Nachrichten, außer der von heute Morgen, von 7.50 Uhr, in der stand, sie habe gleich eine wichtige Besprechung mit Classner und melde sich später. Das war einige Stunden her. Sie nahm an, dass ich durch Palermo lief und mir barocke Kirchen oder Normannenpaläste anschaute. Wenn ich das Handy jetzt ausschalten würde, wäre ich verschwunden. Mein Daumen kreiste über dem Aus-Knopf. Ich sah mich nackt in der blaugrünen See absinken, hinunter, immer tiefer durch das salzige Wasser bis zum Fuße der sechs Vulkane. Ich könnte abtauchen, für immer. Ich könnte sie ganz rücksichtslos verlassen. Brigida würde es zunächst nicht glauben, dann würde sie mich hassen.

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