Das Locken der Sirene (German Edition)
Nacht mit Nora. Fremd, aber nicht beängstigend. Er fragte sich, ob er sich Grace mehr öffnen könnte, wenn er sie wiedersah. Ihm war danach, sie so zu berühren, wie Robin ihn berührt hatte. Und er wollte ihr einiges von dem beibringen, was er von Nora gelernt hatte.
Das Telefon klingelte. Inzwischen war es so spät, dass es kein geschäftlicher Anruf mehr sein konnte. Und da Robin eben erst gegangen war, wusste er genau, wer das sein musste.
„Nora, du bist wirklich ein Teufelskerl!“, sagte er als Erstes. „Aber ich will mich nicht beklagen.“
Zach hörte ein leises Einatmen auf der anderen Seite. Dann herrschte Stille in der Leitung. Nur statisches Rauschen drang an sein Ohr.
„Zachary?“, fragte schließlich eine Stimme, die er über tausend Meilen oder tausend Jahre Entfernung erkennen würde.
Er setzte sich sogleich kerzengerade auf. Sein Herz raste. Alles, was gerade noch entspannt gewesen war, erwachte surrend wieder zum Leben. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Grace“, flüsterte er. „Tut mir leid. Ich dachte, das wäre meine Autorin. Nora Sutherlin – sie ist eine Verrückte. Ich glaube, du würdest sie mögen. Aber ich stammle wie ein Idiot. Wie geht es dir?“
Erneut schwieg sie, und in dieser Pause starb er tausend Tode.
„Du hast nie wie ein Idiot gestammelt“, sagte Grace, und Zach konnte sich das Lächeln vorstellen, das ihre Worte begleitete. „Ich habe dich noch nie so freundlich von einem deiner Autoren reden hören. Sonst sagst du immer, was für Idioten und Trottel sie sind. Diese hier muss etwas Besonderes sein.“
„Sie treibt mich irgendwann in den Wahnsinn, und ich habe Angst vor ihr. Wie geht es dir?“, wiederholte er seine Frage und verzog zugleich das Gesicht. Er klang wirklich wie ein Idiot.
„Ich tappe im Dunkeln, und das meine ich wörtlich, fürchte ich. Ich bin gerade nach Hause gekommen, und alle Lichter sind aus. Ich kann die Taschenlampe nirgends finden. Ich bin nur froh, dass ich mein Handy dabeihatte.“
„Ist es ein allgemeiner Stromausfall, oder ist nur unser Haus betroffen?“ Wieder verzog er das Gesicht. Durfte er überhaupt noch von „unserem Haus“ sprechen?
„Ein Stromausfall, glaube ich. Die ganze Straße ist dunkel. Ich habe die Stromgesellschaft schon angerufen. Bis morgen früh sollte alles wieder in Ordnung sein, aber solange ich diese verfluchte Taschenlampe nicht finde, habe ich Angst, mich zu bewegen.“
Zach stellte sich vor, wie Grace im Dunkeln am Küchentisch saß und darüber nachdachte, ob dieser Notfall groß genug war, um ihn anzurufen. Sie sagte, sie sei gerade erst nach Hause gekommen. In London war es schon fast Mitternacht. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, wo sie so spät noch gewesen war.
„Lass mich mal nachdenken. Hast du in der Schublade nachgeschaut?“
„Neben dem Herd? Ja, da habe ich zuerst nachgeschaut. Da war so ziemlich alles, nur keine Taschenlampe.“
„Nein, da ist sie auch nicht, du hast recht. Sie liegt in dem Schrank im Abstellraum. Ich erinnere mich jetzt ganz deutlich, dass ich sie dorthin gelegt habe.“
„Ich gucke nach.“
„Sei vorsichtig.“
Zach hörte, wie Grace sich behutsam durch die Küche bewegte. Eine Tür wurde geöffnet.
„Da ist sie. Auf dem zweiten Regalbrett.“
„Gut“, sagte Zach. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, sie noch länger in der Leitung zu halten. „Sei vorsichtig, wenn du Kerzen anzündest.“
„Bin ich“, gab Grace zurück. Sie klang amüsiert.
„Wenn das Licht nicht bald wiederkommt, kannst du die Nacht ja …“ Zach verstummte. Er schluckte. „Bei einem Freund verbringen. Wenn das Licht nicht geht, ist die Alarmanlage auch nicht an.“
„Ich werde die Nacht schon überstehen.“ Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. „Wenn ich noch einmal Hilfe brauche, melde ich mich.“
„Mach das bitte.“ Zach rieb sich das Gesicht. „Hast du mich gebraucht? Oder irgendetwas anderes?“
Wieder dieses Schweigen. Er brauchte sie. Er wollte hören, wie sie sagte, dass sie ihn liebte. Oder dass sie ihn hasste, dass sie die Scheidung wollte oder dass er zu ihr zurückkommen sollte. Dass sie ihm den Tod wünschte oder dass er sofort nach Hause kommen müsse, um sie vor der Dunkelheit zu beschützen, wie jeder gute Ehemann es tun würde. Er brauchte irgendetwas von ihr. Denn er konnte und wollte nicht so weitermachen wie bisher.
„Nein“, sagte Grace schließlich. „Jetzt hab ich ja die Taschenlampe. Noch mal
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